Top-Klimaforscherin Ürge-Vorsatz: "Es gibt so viele Lösungen“
Diana Ürge-Vorsatz ist Professorin an der Central European University (CEU) in Wien und stellvertretende Vorsitzende des UN-Wissenschaftsgremiums IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change). Als solche nimmt sie auch an der noch bis 12. Dezember laufenden Weltklimakonferenz COP28 in Dubai teil.
Mit dem KURIER sprach sie über ihre Erwartungen an die COP, worauf es in Dubai ankommt und warum sie trotz allem optimistisch bleibt.
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KURIER: Sie nehmen zum ersten Mal als stellvertretende Vorsitzende des IPCC an einer COP teil. Was bedeutet das für Sie?
Diana Ürge-Vorsatz: Ich empfinde es als eine enorme Verantwortung, aber auch als Chance. Die Welt hat in den letzten beiden Sommern begonnen, die Extreme der Extreme zu erleben und leider wird es dieses und nächstes Jahr wegen El Niño nicht besser werden. Wir müssen mit noch mehr klimabedingten Katastrophen rechnen. Es ist daher ein entscheidender Zeitraum und das bedeutet, dass die Entscheidungsträger in den Regierungen gutes, auf Fakten basierendes Wissen brauchen, damit sie unter hohem Druck richtige Entscheidungen treffen können. Und das ist unsere Aufgabe: die wissenschaftlichen Erkenntnisse aufzubereiten und zu bewerten.
COP: Die „Conference of Parties“
Die COP ist die jährliche Konferenz aller – mittlerweile 198 – Staaten, die die UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) unterzeichnet haben und wird auch häufig als Weltklimagipfel bezeichnet.
Die Rolle des IPCC
Das „Intergovernmental Panel on Climate Change“ – salopp auch Weltklimarat genannt – hat die Aufgabe, den weltweiten Forschungsstand über den Stand und die Auswirkungen der globalen Erwärmung sowie mögliche Minderungs- und Anpassungsstrategien zusammenzutragen und zu bewerten. Handlungsempfehlungen gibt das IPCC jedoch keine ab.
2023 wird das heißeste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen und diese Geschwindigkeit der Erderwärmung haben selbst Expertinnen und Experten nicht erwartet. Liegt das am Klimawandel alleine oder auch an natürlichen Phänomenen wie El Niño und den Nachwirkungen des Vulkanausbruchs auf Tonga Anfang des Jahres?
Es stimmt, 2023 hat fast alle Klimawissenschaftler überrascht. Sie sind daher aufgeregt und besorgt und versuchen unter Hochdruck, Erklärungen zu finden, aber das wird noch dauern.
Was ist von der COP zu erwarten?
Es ist wichtig zu verstehen, dass wir kein neues Abkommen benötigen. Wir verfügen bereits über die nötigen Vereinbarungen, dem Klimawandel zu begegnen oder uns zumindest auf den richtigen Weg zu bringen. Was wir tun müssen, ist, sie gut umzusetzen und dahingehend ist die COP natürlich sehr wichtig. Ein Großteil der Arbeit dreht sich aber um technische Details: Wie vermeiden wir die Doppelzählung von Emissionsgutschriften, solche Dinge. Darin liegt für mich der eigentliche Zwiespalt, denn dafür müssten wir nicht 80.000 Menschen einfliegen.
Auf der anderen Seite ist es auch eine große Chance, zwei Wochen lang den Klimawandel in den Fokus zu stellen. Und eine große Chance für alle, die etwas tun wollen, dorthin zu gehen und zu zeigen: Das ist meine neue Technologie. Dies ist mein neuer Bericht. Aus diesem Grund ist es für mich wirklich schwierig zu sagen, was ich erwarte, denn zusätzlich bin ich auch über viele Dinge besorgt.
Welche Dinge?
Wenn ich mich auf eine Sache festlegen müsste, dann wäre es die Ungerechtigkeit des Zugangs zur COP, denn nur die Privilegiertesten können es sich leisten, teilzunehmen. Ja, es gibt Programme, die die weniger entwickelten Länder und die Jugend fördern, aber das sind immer noch sehr kleine Gruppen. Und ich denke, das ist der Grund, warum wir nicht viel weiterkommen. Die COP ist sehr stark auf die Agenda der globalen Eliten ausgerichtet. Und es ist sehr schwer, substanzielle Fortschritte zu erzielen, solange wir nicht alle unterschiedlichen Bedürfnisse und Sichtweisen an einen Tisch bringen. Wir haben viele Fortschritte gemacht, aber wir brauchen mehr Gleichberechtigung.
Wie problematisch finden Sie, dass mit Sultan Al Jaber der CEO des staatlichen Ölkonzerns der Emirate den Vorsitz innehat?
Es ist nicht meine Aufgabe, über Persönlichkeiten zu diskutieren. An sich sehe ich kein Problem darin, wenn die COP in einem Land stattfindet, das stark auf fossile Brennstoffe angewiesen ist. Das kann sogar gut sein, wenn dadurch in diesen Ländern mehr über den Klimawandel diskutiert wird. Andererseits fehlt die Ausgewogenheit. Es wäre schön, wenn die COP einmal in einem Land stattfinden würde, das akut vom Klimawandel bedroht ist, etwa in Bangladesch oder einem kleinen Inselstaat.
Bleiben wir vorerst in Dubai. Viel wird über den „Global Stocktake“, also die Bestandsaufnahme der weltweiten Emissionen gesprochen. Warum ist das so wichtig?
Im Pariser Abkommen haben sich die Länder freiwillige Ziele hinsichtlich ihrer Emissionsreduzierungen gesetzt. Die Bestandsaufnahme zeigt, ob diese Ziele erreicht wurden und ob die Summe dieser Maßnahmen wirklich die Hauptverpflichtung des Pariser Abkommens erfüllt, den globalen Temperaturanstieg deutlich unter zwei Grad, idealerweise nahe an 1,5 Grad zu halten.
Von zweiterem sind wir weit entfernt. Selbst wenn alle diese freiwilligen Verpflichtungen eingehalten werden, steuern wir bis zum Jahr 2100 auf plus 2,9 Grad zu.
Das stimmt. Die andere Frage ist trotzdem, ob die Länder zumindest diese Verpflichtungen wirklich einhalten. Das sind die Fragen, die wir uns alle stellen müssen: Machen wir es gut genug? Müssen wir noch mehr Gas geben und bei welchen Maßnahmen? Dazu gibt es auch immer mehr Diskussionen über Anpassungsmaßnahmen und natürlich über die Finanzierung. Das Pariser Abkommen enthält große Finanzierungsversprechen und auch hier muss geprüft werden, wie diese Finanzströme aussehen und ob sie die Wirkung haben, die sie haben sollen.
Sie sprechen vom „Loss und Damage“-Fonds, aus dem Entwicklungsländer bei klimabedingten Schäden unterstützt werden sollen.
Nicht nur. Es geht auch darum, den Entwicklungsländern bei der Energiewende und der Reduzierung ihrer Emissionen zu helfen. Wir können kaum erwarten, dass Bangladesch oder Tansania keine Kohlekraftwerke mehr nutzen. Sie müssen sich entwickeln, sie müssen ihre Bevölkerung mit Strom versorgen, sie brauchen Gesundheitsversorgung, Wasser und so weiter. All das ist Energie. Und es ist schwer für uns, jemandem zu verbieten, einen Weg zu wählen, den wir eingeschlagen haben. Daher müssen wir sie unterstützen. Aber natürlich, Loss und Damage ist ein weiterer wichtiger Punkt - und ich denke, die größte Errungenschaft der letzten COP.
Wieso das?
Ich bin sehr stolz, dass wir anerkannt haben, dass der Klimawandel letztlich unsere Schuld ist, die Schuld der am weitesten entwickelten Länder, dass wir aber nicht die Hauptleidtragenden sind und dass wir die Verantwortung haben, das auszugleichen. Und, dass wir unsere Steuergelder zum Ausgleich verwenden. Allerdings sollte es nicht nur das Geld der Steuerzahler sein.
Wessen Geld dann?
Nun, ich denke, die Fossil-Konzerne haben am meisten profitiert, also sollten sie auch einen fairen Anteil beisteuern.
Nicht nur Geld, auch das Thema Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (Carbon Capture and Storage, CCS, Anm.) soll in Dubai viel Raum einnehmen. Zu Recht?
Um ein vernünftiges, globales Temperaturniveau zu halten, werden wir zweifellos ein gewisses Maß an Kohlendioxidabscheidung benötigen. Auch, weil es Industrien gibt, von denen wir nicht wissen, wie sie rechtzeitig dekarbonisiert werden können, etwa die Luftfahrt oder die Zementherstellung. Ich weiß, dass es viele Befürchtungen gibt, dass CCS zu weniger Klimaschutz führt, aber wir brauchen beides. Für mich wäre aber auch wichtig, dass wir viel mehr über die Energienachfrage diskutieren und unser Wachstumsparadigma hinterfragen. Wir sind mit einer dreifachen Krise aus Klimawandel, Umweltverschmutzung und Artenverlust konfrontiert, weil wir unsere planetarischen Grenzen überschreiten.
Westliche Politiker zeigen gerne mit dem Finger auf China, weil dort immer noch neue Kohlekraftwerke gebaut werden. Andererseits wird dem Land bereits ab 2024 ein Rückgang der Emissionen vorhergesagt. Wie sehen Sie die Rolle Chinas?
China ist der weltgrößte Emittent und jede Entscheidung, die es trifft, hat globale Auswirkungen. Ja, es werden neue Kohlekraftwerke gebaut. Das liegt zum Teil auch daran, dass wir unsere Produkte billiger kaufen wollen als zu dem Preis, um den wir in der EU produzieren können. Gleichzeitig hat China das fortschrittlichste System an Hochgeschwindigkeitszügen. Jede Stunde wird dort ein neues Fußballfeld mit neuen Photovoltaikzellen installiert. Während wir in Wien jedes neue Passivhaus feiern, baut China ganze Städte nach Passivhausstandard. Das Entwicklungstempo in alle Richtungen ist absolut verblüffend.
Sie sagen, wir feiern jedes Passivhaus, das wir bauen. Wie beurteilen Sie die Bemühungen Österreichs, die Emissionen zu reduzieren?
Wir beurteilen im IPCC nicht wirklich einzelne Länder, aber ich denke, es ist wirklich wichtig anzuerkennen, dass Österreich in vielen Bereichen Fortschritte gemacht hat. In fast allen Reden führe ich etwa das Beispiel der Sanierung des Hochhauses der TU Wien am Getreidemarkt an. Ich glaube, in Österreich ist man sich nicht bewusst, was für ein Wunder man dort vollbracht hat: Das ist jetzt ein energiepositives Gebäude, es produziert mehr Energie als es verbraucht. In früheren wissenschaftlichen Abhandlungen haben wir dargelegt, dass genau das bei kommerziellen Hochhäusern in Mitteleuropa nicht möglich wäre. Glücklicherweise lesen Ihre fantastischen Fachleute und Unternehmen unsere Artikel nicht. Aber das ist, glaube ich, schon fast ein Jahrzehnt her. Es ist eine Schande, dass das immer noch nicht in größerem Maßstab passiert.
Ich habe das Gefühl, dass Sie ein optimistischer Mensch sind. Der neue IPCC-Vorsitzende, Jim Skea, hat im Sommer viel Aufsehen erregt, indem er vor apokalyptischen Botschaften im Zusammenhang mit dem Klimawandel warnte, da diese die Menschen irgendwie lähmen. Wie sehen Sie diese Angelegenheit?
Ich denke, wir sollten die Wahl der besten Botschaften den Kommunikationsexperten überlassen. Aber ich bin Wissenschaftlerin und ich kommuniziere auf der Grundlage dessen, was wir wissen. Und das ist: Wir befinden uns auf der Titanic und werden sehr bald auf den Eisberg auflaufen. Wir wissen aber auch: Wenn wir wirklich große Veränderungen vornehmen, dann können wir noch ausweichen. Ich bin eigentlich ein sehr pessimistischer Mensch, aber bei diesem Thema bin ich Optimistin. Weil ich sehe, dass es so viele Lösungen gibt, die nicht nur den Klimawandel lösen, sondern gleichzeitig unser Leben so viel besser machen können. Je später wir aber handeln, desto weniger Wahlmöglichkeiten, wie wir diese Krise bewältigen, werden wir haben. Dann werden wir auf Lösungen zurückgreifen müssen, die für die meisten Menschen nicht gut sein werden.
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