Ärzte ohne Grenzen: Grenzzäune "weitestgehend wirkungslos"

Barbed wire along Polish Russian border
Für Marcus Bachmann ist die Forderung nach Grenzzäunen eher ein Politikum als eine Frage der Logik.

In einem Punkt gibt Marcus Bachmann Bundeskanzler Karl Nehammer recht. "Grenzzäune wirken", sagt der Berater für humanitäre Angelegenheiten von Ärzte ohne Grenzen (MSF, Medecins sans frontieres) Österreich im Interview mit der APA. Allerdings ist das Problem laut Bachmann: "Sie wirken anders als dargestellt."

Der Sprecher übt heftige Kritik an den Forderungen des Bundeskanzlers nach mehr und intensiver ausgebauten Grenzzäune an den Außengrenzen der Europäischen Union. Der Krone sagte Nehammer etwa in einem Interview: "Damals haben gewaltbereite Migranten aus der Türkei kommend versucht, den Zaun einzureißen, die Grenze zu überschreiten", und: "Wenn Migranten den Zaun gewaltbereit überwinden, dann werden sie hoffentlich daran gehindert." Bachmann stellt die Aussagen des Politikers in den Kontext von struktureller Gewalt.

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"Sehen Umgekehrtes"

"Wir von Ärzte ohne Grenzen sehen etwas Umgekehrtes", kommentiert Bachmann Nehammers Phrasierung. Der Kanzler unterstelle, dass "pauschal alle Migranten und Schutzsuchenden prinzipiell gewaltbereit seien". Die Behauptung des Politikers sei aber nicht durch Fakten belegt. "Diese Rhetorik erzeugt gefährliche Ableitungen und Bilder", sagt er über Nehammers Äußerungen.

"Man muss die Aussage des Kanzlers als Normalisierung von Grenzgewalt sehen", erwidert Bachmann gegenüber der APA. Mitglieder von MSF sähen an allen Grenzen, dass Grenzbeamte Gewalt anwendeten, sei es auf den griechischen Inseln Samos und Lesbos, an der Grenze Nordmazedoniens, an der serbisch-ungarischen Grenze oder an den Grenzen Belarus' zu Polen, Litauen und Lettland, "um die allerdramatischsten zu nennen". Bisher unter dem Radar der Öffentlichkeit sei die Gewalt an bulgarischen Außengrenzen.

Strukturelle Gewalt

Es sei bedrückend, zu sehen, "dass die strukturelle Gewalt in Form von gebauter Gewalt zunehmend begleitet wird von immer gewaltsamer werdenden Pushbacks", schildert Bachmann seine Sicht der Dinge. Seine Aussagen unterlegt er im Gespräch stets mit Beispielen und dem Hinweis, dass es eine Vielzahl weiterer Fälle gebe. An der serbisch-ungarischen Grenze etwa steht laut Bachmann der "am stärksten ausgebaute und gefährlichste Grenzzaun, den es zurzeit auf europäischem Boden gibt".

Jeder fünfte Patient, der in einer der mobilen Kliniken von MSF in Serbien versorgt werde, weise schwere körperliche und psychische Verletzungen auf, die konsistent seien mit den Schilderungen von Gewalt, die ungarische Grenzbeamte gegenüber Schutzsuchenden angewandt hätten.

Bei den Wunden handle es sich um "ausgerenkte Gelenke, geschlossene und offene Knochenbrüche, Weichteilverletzungen." Teilweise verlören Menschen auf einer Seite das Augenlicht "aufgrund von - wie Flüchtende uns sagen - gewaltsamen Pushbacks durch ungarische Grenzbeamte. Wir sehen also: Wenn Grenzzäune wirken, dann wirken sie in erster Linie verletzend - sie verletzen Menschen physisch, aber sie verletzen auch die Menschenwürde. Mitunter geht es tragischerweise so weit, dass sie auch tödlich wirken."

Todesopfer gibt es jedoch nicht nur an der serbisch-ungarischen Grenze. Vergangenen Winter seien 27 Menschen an den belarussischen Grenzen zu Polen, Lettland und Litauen gestorben, die meisten von ihnen durch Erfrieren. Die aktuelle Dimension laut Bachmann: "Unsere Teams haben allein seit heurigem Oktober in Litauen schon 14 Menschen behandeln müssen wegen so schweren Erfrierungen, dass teilweise Gliedmaßen amputiert werden mussten. Das betrifft sowohl Erwachsene als auch Kinder." Dabei stehe der tiefe Winter mit rund 20 Grad minus erst bevor.

Grenzbarrieren weitestgehend wirkungslos

Generell ist für Bachmann die Forderung nach Grenzzäunen eher ein Politikum als eine Frage der Logik. In Österreich werde mittlerweile parteiübergreifend die Forderung nach Abschottungs- und Abschreckungsmaßnahmen gestellt, meint er. Dem entgegnet er: "Wir sehen in der Empirie, aber wir wissen auch von der Migrationsforschung, dass Grenzbarrieren weitestgehend wirkungslos sind. Die Migrationsforschung zeigt ganz deutlich, dass, wenn Grenzzäune errichtet werden, sie - wenn überhaupt - nur sehr kurzfristig einen Effekt haben."

Bald nach ihrer Errichtung komme es "zur Anpassung von Überwindungsstrategien". Konkret heißt das: "Als humanitäre Organisation sehen wir sehr oft, dass Grenzzäune dazu beitragen, dass Menschen dann gezwungen werden, gefährlichere Flucht- oder Migrationsrouten zu beanspruchen. Dazu zählt auf der einen Seite, sich in die Hände von Schleppern zu begeben, auf der anderen Seite, Routen zu wählen, in denen die Gefahren noch viel größer sind."

Legale Fluchtrouten

Als Alternative zu Grenzzäunen schlägt Bachmann sichere und legale Fluchtrouten vor und nennt Resettlement-Programme: "Das bedeutet, dass Menschen, üblicherweise im Programm vom Flüchtlingshochkommissariat UNHCR, aufgrund ihrer festgestellten Vulnerabilität und/oder ihrer besonderen Bedürfnisse die Möglichkeit haben, sicher und geregelt in einem Land aufgenommen zu werden und auch legal und unterstützt dorthin zu kommen." Zudem gebe es durchaus EU-Mitgliedsstaaten, die humanitäre Visa vergeben würden und humanitäre Korridore offenhielten. An der italienischen Regierung, die nach wie vor einen Korridor von Libyen nach Italien sichere, könne man sich orientieren. Österreich demgegenüber habe 2017 "die allerletzten Programme für sichere und legale Fluchtmöglichkeit, nämlich das Resettlement-Programm des UNHCR, gestoppt."

Bachmann kritisiert auch die Bezeichnung von Menschen als "irreguläre" Flüchtlinge. "Wenn es gar keine legalen Flucht- und Migrationswege gibt, bleibt ihnen keine andere Option, als sich irregulär zu bewegen." Diese Menschen hätten aber genauso Anspruch auf die Einhaltung internationaler Flüchtlingskonventionen. Es sie "die Verpflichtung eines auf Rechte basierenden Staates", diese Konventionen umzusetzen.

Ebenso hätten auch Flüchtlinge Anspruch auf Sicherheit. Angesprochen auf Nehammers Statement, man müsse "den Menschen glaubhaft ein Gefühl der Sicherheit geben", meint Bachmann: "Prinzipiell ist dem hundertprozentig zuzustimmen. Sicherheit gehört neben Essen und Trinken zu den absoluten Grundbedürfnissen. Das kann ich aus meiner eigenen humanitären Arbeit bestätigen." Er ergänzt, "dass Sicherheit unteilbar ist. Sicherheit muss alle miteinschließen, nicht nur die Menschen, die auf dem Territorium von Österreich oder in anderen EU-Staaten leben, sondern auch Menschen, die sich als Migranten oder Schutzsuchende bewegen. Dieser Anspruch auf Sicherheit muss allen gegenüber erfüllt werden."

Bachmann zerpflückt Nehammers Aussagen genau. "Er spricht nicht über Sicherheit, sondern er spricht über das Gefühl der Sicherheit." Wenn der Begriff emotional verwendet werde, berge dies die Gefahr der Ablenkung, befindet der Experte.

Während auf der einen Seite emotionalisiert und zugespitzt werde, würden auf der anderen Seite Fluchtursachen und Migrationsgeschichten komplett ausgeblendet. Dabei sei bereits die Entscheidung zu einer Flucht oder einer Migration wesentlich komplexer, als es üblicherweise dargestellt werde. Die Bewegung selbst dauere dann Monate, manchmal Jahre. Eine Verknappung - und Bachmann sei sich bewusst, dass er damit selbst zuspitze - auf einen Grenzzaun als Allheilmittel hingegen "ist absolut nicht lösungsorientiert und macht einen Wortführer und alle, die geneigt sind, ihm zu folgen, Gefangene dieser Logik. Aus dieser Logik muss man auch einmal herausfinden."

Migration kann man Bachmann zufolge nicht verhindern. "Migration hat es immer gegeben, gibt es und wird es immer geben. Wenn wir über Lösungsmöglichkeiten sprechen, müssen wir als erstes Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen."

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