24 Stunden mit der 24-Stunden-Betreuung: "Jede hat am Anfang Angst"
Um 5.15 Uhr läutet der Wecker von Alena M. Sie steht auf, zieht sich an und geht nach nebenan. In einem Pflegebett im Wohnzimmer wartet bereits Edeltraud Lorenz auf sie. Die 97-Jährige muss zur Toilette gebracht und gewaschen werden.
14 Tage im Monat ist die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung von Edeltraud Lorenz im niederösterreichischen Maria Enzersdorf das Zuhause von Alena M. Die 57-jährige Slowakin ist 24-Stunden-Betreuerin. "Ich mache alles", sagt die Frau mit den gelockten, dunkelbraunen Haaren und dem permanenten, aber aufrichtigen Lächeln auf ihren Lippen. Sie kauft ein, kocht, putzt, wäscht – 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.
Suche nach Personal
Seit knapp zwei Wochen beherrscht das Thema Pflege erneut den öffentlichen Diskurs. Auslöser sind die derzeitigen Kollektivvertrags-Verhandlungen für die Sozialwirtschaft. Die Beschäftigten fordern die 35-Stunden-Woche bei gleichem Lohn. Die Arbeitgebervertreter lehnen das als unfinanzierbar ab. Streiks sind die Folge.
Ausgerechnet in dieser Phase der Verhandlungen machte ein Branchensprecher der Wirtschaftskammer Wien den umstrittenen Vorschlag, künftig Pflegekräfte aus Marokko zu rekrutieren – auch für die 24-Stunden-Betreuung, die zwar nur fünf Prozent der Pflege hierzulande ausmacht, aber wohl der heikelste Bereich ist. Die Branche sucht nun einmal händeringend nach Personal.
Es ist 9.30 Uhr. Alena M. füttert Frau Lorenz mit selbst gemachtem Obstbrei. „Den mache ich meinen Enkeln auch“, erzählt sie und streichelt „Frau Traude“, wie sie ihre Klientin nennt, über die Wange. Zuhause in der Slowakei hat Alena M. einen Mann, eine Tochter und zwei Enkelkinder. Ihre andere Tochter lebt in Prag. Sobald sie ihre 14-Tage-Schicht in Maria Enzersdorf beendet hat, fährt sie für zwei Wochen nach Hause und die andere Betreuerin übernimmt. Auch wenn sie „Frau Traude“ ins Herz geschlossen habe, zähle sie die Tage, bis sie wieder heimfahren kann. In der Zwischenzeit telefoniert sie täglich mit ihrer Familie.
Knapp 70.000 24-Stunden-Betreuerinnen kümmern sich in Österreich um pflegebedürftige Menschen. Sie kommen aus der Slowakei, aus Kroatien, Rumänien und Bulgarien. 2006 wurde diese Art der Betreuung legalisiert. Die Betreuerinnen sind selbstständig, über Agenturen kommen sie an Klienten. 94 Prozent sind Frauen, 99 Prozent aus dem Ausland.
Allein das Hilfswerk sucht 300 Pflegekräfte
Allein das Hilfswerk, das Alena M. an Frau Lorenz vermittelt hat, sucht derzeit 300 Pflegekräfte. Die Anzahl der Slowakinnen gehe derzeit aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs zurück. Wie fragil das System ist, weiß Maria Kainz, Regionalverantwortliche beim Hilfswerk. "Sperrt ein Autowerk in der Slowakei auf, kommen weniger Pflegekräfte." Hauptmotiv der Betreuerinnen ist laut einer internen Befragung die besseren Verdienstmöglichkeiten in Österreich. "Wenn das Einkommensgefälle nicht mehr gegeben ist, wird es für die Frauen uninteressant", sagt Roland Loidl vom Institut für Personenbetreuung, einer unabhängigen Anlaufstelle für 24-Stunden-Betreuerinnen.
Das bedeutet: Die Länder, aus denen die Frauen rekrutiert werden, liegen immer weiter weg. Das erschwert nicht nur die Anreise (und damit die Kosten), sondern verstärkt auch kulturelle Unterschiede. Um dem Mangel an Pflegekräften hierzulande entgegenzuwirken, starten im Herbst Schulversuche zur Pflegeausbildung mit Matura. Allein mit dieser Maßnahme wird man die massive Lücke aber nicht füllen können.
Mittlerweile zeigt die Uhr 12.30 Uhr an. Alena M. und Edeltraud Lorenz sitzen sich gegenüber. Vor dem Mittagsschlaf sagen sie noch Gedichte auf. Die Betreuerin gibt einen Satz vor: „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?“. Und ihre Klientin beendet allein den gesamten Erlkönig. Das dient nicht nur dem Zeitvertreib. Frau Lorenz hustet viel, das Sprechen helfe dagegen.
Vor ihrem Job als 24-Stunden-Betreuerin hat Alena M. als Sekretärin in der Slowakei gearbeitet. Als sie ihre Stelle wegen Einsparungen verloren hatte, erzählten ihr Freundinnen von der Arbeit als Betreuerin in Österreich. Also absolvierte sie einen zweimonatigen Deutschkurs. Nachweisen musste sie beim Hilfswerk zudem einen 200-Stunden-Kurs, der in etwa dem Niveau einer Heimhilfe in Österreich entspricht.
Beim Hilfswerk verdient eine Betreuerin im Zweiwochenrhythmus zwischen 994 und 1.239 Euro im Monat (für 1 Klienten). Hinzu kommen Fahrtgeld, Kost und Logis. Die Kosten für Betreute hängen von Pflegestufe und Pflegebedarf ab. Die 24-Stunden-Betreuung einer Person in Pflegestufe 3 beläuft sich beim Hilfswerk zum Beispiel auf 1.385,70 Euro im Monat (Pflegegeld und 550-Euro-Förderung vom Bund bereits abgerechnet).
Umgehen mit Demenz
„Jede hat am Anfang Angst hierher zu kommen“, erzählt die 57-Jährige. Es seien Fragen wie: Wird es gut? Wie ist die Familie? Ist es sauber? In den ersten zwei Wochen sei man vor allem damit beschäftigt, herauszufinden, wo was zu finden sei. Letztlich habe sie Glück gehabt, wie Alena M. sagt: „Frau Traude ist trotz der Krankheit ein sehr netter Mensch.“
Die Demenz-Diagnose bekam Edeltraud Lorenz vor zehn Jahren. „Wir sind nicht gleich draufgekommen“, erinnert sich ihr Sohn Karl-Horst Lorenz. Er wurde stutzig, als die Nachbarin beobachtete, wie seine Mutter jeden Tag zum Supermarkt ging und Brot kaufte – und das, obwohl die Brotlade voll war. Zuerst organisierte er Essen auf Rädern, doch Frau Lorenz bunkerte die Speisen im Kühlschrank. Dann entwickelte sie einen ungewöhnlichen Zwang in Bezug auf ihre Zähne, spürte stets einen Druck im Kiefer und gab in einem Jahr 60.000 Euro für unterschiedliche Zahnärzte aus. Zuletzt wurde sie misstrauisch, teilweise gar bösartig. Herr Lorenz meldete sie für einen Probetag im Heim an, merkte aber schnell: „Das ist nicht optimal für jene, die geistig nicht fit sind.“ Seine Mutter rufe oft nach jemandem, einfach um zu wissen, ob wer da sei. Mit den beiden 24-Stunden-Betreuerinnen sei er sehr zufrieden. „Für uns sind sie wie Familie.“
Pflegegeld: Wer pflegebedürftig ist, hat Anspruch auf Pflegegeld, vorausgesetzt der monatliche Pflegebedarf beträgt mehr als 65 Stunden. Wie hoch die Geldleistung ist, richtet sich nach dem Pflegeaufwand. Er wird bei einer ärztlichen Untersuchung festgestellt. Es erfolgt eine Einordnung in eine der Pflegestufen. Die Entscheidung über die Wahl der Betreuungsart wird dem pflegebedürftigen Menschen überlassen.
Pflegegeld beantragen: Wer pflegebedürftig ist, hat Anspruch auf Pflegegeld, vorausgesetzt der monatliche Pflegebedarf beträgt mehr als 65 Stunden. Wie hoch die Geldleistung ist, richtet sich nach dem Pflegeaufwand. Er wird bei einer ärztlichen Untersuchung festgestellt. Es erfolgt eine Einordnung in eine der Pflegestufen. Die Entscheidung über die Wahl der Betreuungsart wird dem pflegebedürftigen Menschen überlassen.
Den Antrag auf Pflegegeld (oder auch auf eine Änderung der Pflegestufe) müssen Betroffene bei der zuständigen Versicherung stellen, etwa bei der Pensionsversicherungsanstalt oder der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen. Das Pflegegeld ruht während eines Spital- oder Kuraufenthalts, wenn die Kosten dafür etwa ein Sozialversicherungsträger oder auch ein Gesundheitsfonds trägt.
Die Pflegestufen: Es gibt sieben Pflegestufen. Das Pflegegeld wird 12-mal jährlich ausbezahlt und wird jedes Jahr wertangepasst. Es werden keine Lohnsteuer und Krankenversicherungsbeiträge abgezogen.
Pflegestufe 1: über 65 Stunden Pflegebedarf pro Monat, Pflegegeld: 160,10 €.
Pflegestufe 2: über 95 Stunden pro Monat, Pflegegeld: 295,20 €.
Pflegestufe 3: über 120 Stunden Pflegebedarf pro Monat, Pflegegeld: 459,90 €.
Pflegestufe 4: über 160 Stunden Pflegebedarf pro Monat, Pflegegeld: 689,80 €.
Pflegestufe 5: über 180 Stunden pro Monat (außergewöhnlicher Pflegeaufwand), Pflegegeld: 936,90 €.
Pflegestufe 6: über 180 Stunden pro Monat (Tag- und Nachtbetreuung notwendig, Betreuungsmaßnahmen nicht mehr planbar), Pflegegeld: 1.308,30 €.
Pflegestufe 7: über 180 Stunden pro Monat (Keine Bewegung möglich), Pflegegeld: 1.719,30 €.
Kein Pflegeregress: Mit 1. Jänner 2018 wurde der Pflegeregress in ganz Österreich abgeschafft. Ein Zugriff auf das Vermögen von Menschen, die in Pflegeeinrichtungen aufgenommen sind, deren Angehörige, Erben und Beschenkten zur Abdeckung der Pflegekosten, ist unzulässig. Unter Vermögen fällt etwa auch Immobilienbesitz und Wertpapiere. Aber nicht das Einkommen, etwa Pensionen und Unterhaltsansprüche der Betreuten.
Bei Fragen: Bürgerservice des Sozialministeriums 01/71100-862286 (Mo. bis Fr. 8 bis 16 Uhr)
Online auf der Plattform für pflegende Angehörige: www.sozialministerium.at/Pflege
Online bei der Arbeiterkammer: www.arbeiterkammer.at
Formulare auch unter www.sozialversicherung.at
Trotz der Unentbehrlichkeit dieser Frauen kürzte die türkis-blaue Regierung die Familienbeihilfe für Kinder im EU-Ausland. Laut Hilfswerk hat sich das kaum auf die Frauen ausgewirkt. Deren Betreuerinnen seien im Schnitt 51 Jahre alt und die Kinder längst aus dem Haus. Das Institut für Personenbetreuung berichtet anderes. „Viele haben aufgehört oder kommen erst gar nicht, weil sie Kinder Zuhause haben“, sagt Roland Loidl.
Es ist 19.30h. Alena M.s Arbeitstag endet bald. Frau Lorenz ist soeben eingeschlafen, die Betreuerin putzt noch, geht duschen und in ihr Zimmer. Ein Bett, ein Kasten, ein Wäscheständer und ein Koffer. Nach persönlichen Gegenständen oder Fotos sucht man hier vergebens. „Ich habe alles im Handy. Ich will nicht, dass das wer anderer sieht“, sagt sie. Alena M. sieht noch ein wenig slowakisches Fernsehen. Um 21.30 Uhr dreht sie das Licht ab, bis um 5.15 Uhr alles von vorne beginnt.
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