Online-Bewertungen: Die Macht der Sterne
Geralt von Rivia hat ein spezielles Hobby. Der 47-Jährige mit der gedrungenen Statur und dem Dreitagebart spricht mit Bedacht, wenn er davon erzählt. Man merkt, er nimmt es ernst. Die große Leidenschaft des Wieners mit dem Fantasyhelden als Pseudonym: Tripadvisor.
Auf der Online-Plattform finden sich rund 830 Millionen Bewertungen von Hotels, Restaurants und Sehenswürdigkeiten in aller Welt. 4.662 davon stammen von Geralt von Rivia.
Jedes Mal, wenn er auf Urlaub fährt, postet er auf Tripadvisor seine Erfahrungen über Gesehenes und Erlebtes.
Vor Kurzem war er für ein Wochenende in Rom. 50 Bewertungen hat er darüber verfasst. So empfiehlt er die Piazza Navona als einen der „schönsten Plätze Roms“. Den Trevi-Brunnen hingegen nennt er „überlaufen“. „Ich mache das aus Spaß und weil es für mich eine Art Reisetagebuch ist. Ein Grund ist vielleicht auch, weil ich mich verewigen will“, sagt Rivia.
Nicht aufzuhalten
Online-Bewertungen machen heutzutage vor nichts und niemandem halt. Restaurants, Fahrtendienste, Ärzte, Anwälte, Handwerker und Hotels: Sie alle müssen damit rechnen, online mit Sternen oder Punkten beurteilt zu werden. Und bei allen entscheidet es über Erfolg oder Misserfolg.
Eine Studie der Deutschen Gesellschaft für Konsumforschung besagt, dass die Bewertungen anderer Menschen im Internet mehr als jede zweite Kaufentscheidung oder Beauftragung eines Dienstleisters beeinflussen. Die Arbeiterkammer spricht gar von 80 Prozent.
Doch ist das nun Segen oder Fluch unserer Zeit?
Die einen feiern Bewertungsportale als Mittel der Transparenz, als Orientierungshilfe im Online-Überangebot. Die anderen – zumeist die Bewerteten – kritisieren die subjektiven Einschätzungen von Nicht-Experten, die Gefahr von Fake-Bewertungen sowie den Angriff auf Persönlichkeitsrechte.
Letzteres Argument etwa führt die Lehrergewerkschaft in Bezug auf eine am Freitag präsentierte App ins Rennen, bei der Schüler ihre Lehrer bewerten können.
Entspannt im Uber
Einer, der hingegen kein Problem mit der Sternenvergabe hat, ist Dejan. Im Hauptberuf Schlosser, fährt der 24-jährige Wiener mit den kurzen schwarzen Haaren, dem ebenso kurzen schwarzen Bart und dem freundlich-entspannten Gesichtsausdruck nebenbei für Uber. Bei der Taxi-Alternative ist die Bewertung ein zentrales Merkmal: Nach jeder Fahrt bewerten sich Fahrer und Fahrgast gegenseitig.
Vielleicht liegt es an seinem mit 4,8 Sternen sehr guten Ranking, vielleicht, so wie er meint, an seinem Gemüt, jedenfalls lässt Dejan sich davon nicht stressen. „Ich denke nicht an die Bewertungen“, erzählt er, „ich bin einfach höflich und nett wie sonst auch.“
Andere sehen das freilich weniger entspannt. Kollegen wie Dejans Cousin wären extra freundlich und bäten am Ende der Fahrt um gute Bewertungen, sagt er. Unter den Fahrern kursiert das Gerücht, sie würden bei zu schlechten Bewertungen gesperrt – auch, wenn Dejan keinen kennt, dem das bereits passiert wäre. Doch das Gerücht reicht, um viele Fahrer zu disziplinieren.
Ausgeliefert
Seit Langem eine Qual sind Online-Bewertungen für Cordula Hütter. „Wir sind dem seit Jahren hilflos ausgeliefert“, seufzt die Lungenfachärztin. Abgewinnen kann sie dem nichts, Reviews wie auf der Plattform „Docfinder“ oder auf Google findet sie „absolut unseriös“. Sie wünscht sich darum die Option, nicht aufzuscheinen, doch die gibt es nicht. Auch Bewertungen löschen zu lassen, ist extrem aufwendig.
Ein weiteres Problem: Die Anonymität im Netz verleite zu extremeren Aussagen, sagt Medienpsychologe Bernad Batinic. An sich sei Feedback ja etwas Positives. Das trifft jedoch nur dann zu, wenn es auch bestimmten Regeln folgt. „Angemessen und respektvoll“ sollte es etwa sein, sagt der Forscher. Das ist jedoch häufig nicht der Fall.
Lesen lernen
Oft mangle es aber auch an Medienkompetenz, meint Batinic. Denn: „Die Kunst ist, die Bewertungen lesen zu können.“ Sprich: die Spreu vom Weizen zu trennen; zu erkennen, „wem kann ich vertrauen und wem nicht“.
Zudem wisse man aus Experimenten, dass die viel zitierte Schwarmintelligenz nicht immer zum besten Ergebnis führt. Wenn es etwa darum geht, die Anzahl von Kügelchen in einem Glas zu schätzen, ergebe der Durchschnitt oft eine gute Annäherung, erzählt Batinic. Bei einem Schachproblem wäre es jedoch sinnvoll, nur die zu fragen, die auch Schach spielen können. Sprich: „Gerade bei Bewertungen wäre manchmal Expertise sicher nicht schlecht.“
„Anonymität verleitet zu extremeren Aussagen und nicht jeder kann das gut verarbeiten.“
Zu guter Letzt sind Online-Bewertungen häufig Extreme, die Mitte geht verloren. Besonders das Negative sei überrepräsentiert, gibt Psychologe Arnd Florack zu bedenken. Der Grund: „Ärger ist ein viel stärkerer Motivator.“
Diese Ansicht teilt auch Geralt von Rivia. „Menschen, die sehr negative Bewertungen abgegeben, haben den Blick auf das Wesentliche verloren, vielleicht weil sie sich beleidigt fühlen.“ Deswegen lese er sich diese Kommentare gar nicht durch, sagt Rivia, bevor er das Café verlässt, in dem ihn der KURIER zum Interview traf.
Er hat noch zu tun: Er muss nach Hause, um das Café zu bewerten. Er wird ihm 4 von 5 Punkten geben.
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