Der Bass dröhnt, ausgelassen tanzen Dutzende junge Menschen mehr oder minder im Takt eines Britney Spears-Hits, lassen die Woche hinter sich – wie fast überall auf der Welt. Auch die 22 Jahre alte Mitsu ist mit ihren Freundinnen hier – im Ausgehviertel von Hiroshima. Wenige hundert Meter entfernt schlug vor bald 80 Jahren die erste Atombombe ein, vernichtete Hunderttausende Menschen sowie die militärischen Ambitionen Japans, die Herrschaft über den indopazifischen Raum zu erlangen.
Nach wie vor gilt Hiroshima als Ort des japanischen Traumas, als Ursprung der pazifistischen Grundhaltung. Der Artikel 9 der Verfassung verbietet Japan kriegerische Aktivitäten sowie den Unterhalt von Streitkräften. „Ein Recht des Staates zur Kriegführung wird nicht anerkannt“, steht dort geschrieben. In einer 2015 durchgeführten Umfrage gaben elf Prozent der Japaner an, für ihr Land kämpfen zu wollen. Mitsu ist eine davon: „Nach meinem Jus-Studium will ich zur Küstenwache, dabei helfen, unsere Seegrenzen zu schützen“, sagt sie.
Von drei Seiten bedroht
Immer wieder dringen Schiffe der chinesischen Küstenwache in japanische Hoheitsgewässer ein, vor allem im Bereich der Senkaku-Inseln, die Peking für sich beansprucht. Das ist nur eine der zahlreichen Bedrohungen, denen sich Japan ausgesetzt sieht: Raketen aus Nordkorea, die japanisches Staatsgebiet überfliegen, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine – nach wie vor hält Moskau mit den südlichen Kurilen vier Inseln besetzt, die die Sowjetunion Ende des Zweiten Weltkriegs von Japan erbeutete.
Für eine Rückgabe dieser Inseln wäre ein Friedensvertrag mit Russland notwendig – die Verhandlungen waren laut dem japanischen Außenministerium bereits weit fortgeschritten, ehe sich mit dem 24. Februar vergangenen Jahres alles änderte. Japan unterstützt die Ukraine, trägt Sanktionen gegen Russland mit. Dennoch befürchtet man in Tokio, dass ein durch den Krieg geschwächtes Russland noch rascher zum Juniorpartner Chinas werden könnte – und China das Machtmonopol in Asien innehätte.
Für Japan ist das eine Horrorvorstellung: Bereits jetzt bereiten die militärische Aufrüstung Pekings und Provokationen wie jene bei den Senkaku-Inseln der japanischen Regierung Kopfschmerzen. Daran, dass sich die Lage in nächster Zeit beruhigt, glaubt in Tokio keiner.
Sorge vor Eskalation
Vor allem aber die Sorge vor einer Eskalation um die Insel Taiwan bewegte die japanische Regierung dazu, massiv in Aufrüstung zu investieren. Denn sollte es zu einem Konflikt zwischen Peking und Washington kommen, würde Japan unweigerlich hineingezogen: Etwa 55.000 US-Soldaten sind auf japanischem Boden stationiert, mit chinesischen Schlägen auf diese Militärbasen muss Japan rechnen.
Doch gerade der erratische außenpolitische Kurs des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump hat Tokio darin bestärkt, sich nicht nur auf den größten Verbündeten zu verlassen. In vier Jahren wird Japan nach den USA und China über das drittgrößte Militärbudget der Welt verfügen. Bisher wurde die Verfassung so ausgelegt, dass die 250.000 japanischen Soldaten Teile der „Selbstverteidigungskräfte“ sind und das Land nur Waffensysteme beschaffen darf, die der Selbstverteidigung dienen.
Gegenschlag-Fähigkeiten
Damit soll nach der im Dezember veröffentlichten Sicherheitsstrategie Schluss sein: In den kommenden Jahren will Tokio über selbstproduzierte Hyperschallraketen verfügen, um im Falle des Falles Gegenschläge auf feindliche Angriffsbasen verüben zu können. Zur Überbrückung will die japanische Regierung Tomahawk-Marschflugkörper aus den USA anschaffen.
Diese Entscheidung sorgt innenpolitisch für Diskussionen: Waffen für den Gegenschlag seien mit der Verfassung nicht vereinbar, führen Kritiker ins Feld. Allerdings unterstützen mehr als 60 Prozent der Japaner die Entscheidung der Regierung. Ein Wert, der vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre.
„Wir haben uns zu lange darauf ausgeruht, dass andere uns im Ernstfall helfen würden. Wir müssen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen“, sagt Mitsu im Club. Ihre Freunde nicken.
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