„Wir halten es für höchstwahrscheinlich, dass Präsident Trump das Wahlergebnis mit legalen und außerrechtlichen Mitteln anfechten wird, um sich an der Macht zu halten.“ Als prominente Strategen von Demokraten und Republikanern im Sommer im „Transition Integrity Project“ Szenarien durchspielten, wie sich der amtierende US-Präsident gegen eine Niederlage am 3. November stemmen könnte, hörten nur Feinschmecker zu. Der Rest war der Überzeugung, Amerikas Institutionen seien stark genug, den Rechtspopulisten in die Schranken zu weisen und gegebenenfalls eine geordnete Machtübergabe an den Demokraten Joe Biden zu gewährleisten. Das war einmal.
Alarmstimmung
Trumps Grenzen sprengende Aussage, dass er eine friedliche Machtübergabe nicht garantieren will, weil die Wahl bereits heute bedingt durch den erwartet hohen Anteil an Briefwählern zu seinen Lasten gefälscht sei, hat die Angst vor einer Verfassungs- und Staatskrise in den politischen Mainstream getragen. Für den Fall, dass es für keinen der Kandidaten einen klaren Sieg gäbe, herrscht Alarmstimmung.
Ausgangspunkt ist die laut Wahl-Historikern wie Edward Foley und Richard Hasen „sehr realistische“ Annahme, dass es am Morgen des 4. November und auch in den Tagen danach keinen eindeutigen Sieger geben könnte. Weil die Coronavirus-bedingte erwartete Flut von Briefwahl-Umschlägen, es geht um zweistellige Millionenzahlen, noch nicht bewältigt sein wird können. In einigen Bundesstaaten dürfen die Stimmzettel bis zu 14 Tage später eingehen.
In dieser Gemengelage könnte sich auswirken, wie Experten befürchten, dass Trump die Briefwahl seit Wochen – ohne profunde Belege zu nennen – als Garant für Betrug diskreditiert. Mit der möglichen Konsequenz, dass er sich auf Basis der Stimmen jener Wähler, die persönlich ins Wahllokal gegangen sind, schon in der Wahlnacht mit Hilfe sympathisierender TV-Sender als Sieger ausruft. Obwohl die Auswertung der Briefwahl, die häufiger von demokratischen denn republikanischen Wählern genutzt wird, das tatsächliche Ergebnis zu Gunsten Joe Bidens verschieben kann. Im politisch aufgeheizten Klima der USA seien gewalttätige Auseinandersetzungen von Anhängern beider Lager nicht auszuschließen.
Wahlmänner/-frauen
Die nächste Klippe droht am 14. Dezember. Da treffen sich auf Basis der „popular vote“ die 538 Mitglieder des Wahlmänner/-frauen-Gremiums („electoral college“) in ihren Bundesstaaten und geben ihre Stimmen für den Präsidenten ab. Am 6. Jänner kommen beide Kongress-Kammern zusammen und zählen die Stimmen offiziell aus. Erst dann steht fest, wer die nötige Mehrheit von 270 Stimmen auf sich vereinigen kann.
Aber: Wenn es bei der Feststellung des Ergebnisses anhaltenden Streit gäbe und die Zeit drängt, können die Parlamente der Bundesstaaten vor dem 14. Dezember die Liste ihrer Wahlmänner selbst bestimmen. Viele Schlüsselbundesstaaten sind republikanisch beherrscht. Macht Trump Druck, könnten hier Mehrheiten entstehen, die nicht dem Wahlverhalten der Bürger entsprechen.
Im umkämpften Pennsylvania wurde bereits ein republikanischer Parteichef ausfindig gemacht, der bestätigt, dass man Pro-Trump-Wahlmänner ins Rennen schicken wolle, selbst wenn Joe Biden den Bundesstaat gewinnen sollte. Argument: Die Briefwahl sei gefälscht gewesen.
Höchstgericht am Zug
Am Ende würde der Streit vor dem Obersten Gerichtshof landen, den Trump um eine Richterin aufstocken will, um eine konservative 6:3 Mehrheit zu zementieren. Erklären die Top-Richter ihn zum Wahlsieger, was Trump erwartet, könnten schwere innenpolitische Verwerfungen die Folge sein.
Einig sind sich jedenfalls nahezu alle Experten in einem: Nach der Wahl am 3. November steht Amerika vor dem härtesten Stresstest seit Jahrzehnten.
Kommentare