Derzeit sind die ukrainischen Städte in der Lage, von russischen Raketen und Drohnen angerichtete Schäden zumindest befehlsmäßig zu reparieren. Dennoch hängt die Energieversorgung am seidenen Faden.
Die Fahrzeugkolonnen nehmen kein Ende. Wer Dienstagfrüh auf die Kiewer Naberezschno-Chreschtschatitska-Straße, die entlang des Flusses Dnepr verläuft, einbiegen will, muss lange warten. Menschen fahren zur Arbeit, Lkw transportieren ihre Güter, dann und wann braust ein Militärkonvoi vorbei – so weit, so alltäglich.
Wäre es zumindest, wären nicht vierundzwanzig Stunden zuvor russische Raketen in Kraftwerken der Stadt eingeschlagen und hätten diese nicht für großflächige Strom- und Wasserausfälle gesorgt. "Wir haben zwar ein Stromaggregat, aber fließendes Wasser gibt es seit Stunden nicht mehr", sagt ein junger Cafébetreiber kurz nach dem Stromausfall.
Es ist eines der wenigen Lokale am Fuße der Kiewer St. Andreas-Kirche, das geöffnet hat. Wo früher Scharen von Touristen flanierten, spazieren auch jetzt viele Kiewer Bürger an den meist dunklen Läden vorbei, hie und da erschallt Gelächter. "Was sollen wir sonst machen? Es bleibt uns nichts anders übrig, als zu hoffen, dass es irgendwann besser wird", sagt der junge Mann. Wenige Meter weiter bietet ein Kiewer den Passanten an, ihre Handys aufzuladen. Auf einem kleinen Tisch hat er seinen Stromgenerator platziert. Das ist kurze Zeit später gar nicht mehr notwendig: Bald sind die gröbsten Schäden repariert, Strom und Wasser fließen wieder.
Rasche Reparaturen nach russischen Raketenangriffen sind nicht nur in Kiew das Gebot der Stunde: "Wir sind wie Ameisen, die ihren Haufen auch sofort wieder aufbauen, nachdem jemand daraufgetreten ist", sagt etwa der Bürgermeister von Mykolaijw zum KURIER.
In der Frontstadt ist seit sechs Monaten das Trinkwasser knapp – neue Filtersysteme aus Dänemark sollen diesem Engpass ein Ende bereiten. Noch ist in Städten wie Charkiw von einem möglichen Mangel nicht viel zu spüren. Die meisten Häuser in den Innenstadtbezirken sind stark beheizt, die Elektro-Straßenbahnen fahren – mit kurzen Ausfällen – die meiste Zeit über.
Dennoch zeigen die russischen Bombardements der ukrainischen Energie-Infrastruktur Wirkung. Mehr als 40 Prozent sind zerstört und bis Winterbeginn dürften es mehr werden.
Nicht zuletzt die Lieferung ballistischer Raketen aus dem Iran bereitet den ukrainischen Behörden Kopfzerbrechen – auch mit den Shahed-Drohnen stehen die russischen Streitkräfte knapp davor, Umspannwerke zu zerstören, die essenziell für die Atomstrom-Versorgung sind. Sollte ihnen dies gelingen, wären Licht und Wärme endgültig Mangelgut.
Erst am Donnerstag fielen die zwei letzten Hochspannungsleitungen aus, die das russisch besetzte AKW Saporischschja mit dem ukrainischen Energienetz verbinden. Wie immer werfen beide Seiten einander den Beschuss des Kraftwerks vor, das für ein Viertel der ukrainischen Energieversorgung verantwortlich ist. Die Reaktoren fünf und sechs der größten Atomanlage Europas wurden vollständig abgeschaltet.
Der Kiewer Bürgermeister Witali Klitschko zieht bereits verschiedene Szenarien zur Versorgung der Bevölkerung in Betracht. "Das Schlimmste wäre, wenn es überhaupt keinen Strom, kein Wasser und keine Fernwärme gäbe", sagt er. "Für diesen Fall bereiten wir über 1.000 Heizstellen in unserer Stadt vor." Die Standorte sollen mit Generatoren ausgestattet werden und über genügend Wasservorräte verfügen.
Anders verhält es sich in Dörfern nahe der Front. Hier fällen die Menschen die Bäume im Garten, nachdem die Wälder größtenteils vermint sind. Derzeit werden von Organisationen wie dem Roten Kreuz Öfen an die Bewohner geliefert, damit diese zumindest heizen können. Von ausreichend Strom kann im Moment keine Rede sein.
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