Und solche Ereignisse, gibt sich der Strategieexperte des Bundesheers überzeugt, werden sich häufen: "In der vierten Woche dieses Krieges hat sich der Angriff auf die großen Städte festgefressen. Es entwickelt sich ein Abnützungskrieg."
"Syrianisierung"
Konkret heißt das, dass die russischen Angreifer zunehmend auf schwere Belagerungsartillerie setzen. Es kommt also zu Artillerieduellen, bei denen etwa auch Kampfdrohnen eingesetzt werden: "Ich nenne das die ,Syrianisierung’ dieses Krieges. Nur dass es diesmal vor unseren Augen, in Europa passiert, dass eine Stadt nach der anderen in Schutt und Asche gelegt wird."
Entscheidende Durchbrüche für eine der beiden Seiten zeichnen sich für Reisner derzeit nicht ab, ebenso wenig aber auch wirkliche Verhandlungen. Die könnte es erst dann geben, wenn beide Armeen bereits so schwere Verluste hätten, dass es keine Aussicht mehr auf einen wirklichen Erfolg gibt. Dann würden beide Seiten versuchen, das, was sie erzielt hätten, als Erfolg zu verkaufen.
Die Einnahme der großen Städte wie Kiew oder Charkiw durch die Russen, die sich seit Wochen verzögert, sieht Reisner ohnehin nicht als vordringliches Kriegsziel der Angreifer: "Irgendwann werden diese Städte fallen, weil ihnen Wasser, Lebensmittel und Medikamente fehlen." Die Russen hätten Zeit, das abzuwarten, und würden den Beschuss der Städte einfach fortsetzen.
Militärische wichtige Entwicklungen, die eine Wende in diesem Krieg bringen könnten, sieht der Oberst ohnehin anderswo. Für die Russen wäre das etwa ein Durchbruch an der Front im Osten. So könnte man dort große Teile der ukrainischen Armee einkesseln und eine stabile Verbindung mit den bereits eingenommenen Gebieten im Süden des Landes schaffen. Ähnlich entscheidend könnte auch die Einnahme der Hafenstadt Odessa sein, die Russland am Montag von See aus beschossen hat.
Die Lage wirklich grundlegend verändern würde aber ein Vorstoß russischer Truppen aus dem benachbarten Belarus. In der Stadt Brest, im äußersten Westen von Belarus, würden seit Tagen verstärkt Truppenbewegungen beobachtet. Auch ein begrenzter Vorstoß über die Grenze in den Westen der Ukraine könnte Panik bei den Hunderttausenden auslösen, die dorthin geflüchtet sind und sich weitgehend in Sicherheit fühlen.
Genaue Prognosen über die Entwicklung in der Ukraine lassen sich laut Reisner derzeit auch von Experten nicht anstellen: "Wir befinden uns mitten im Nebel des Krieges, und der kann sich momentan in viele Richtungen bewegen.“ Ebenso klar wie düster ist laut dem Strategieexperten derzeit ohnehin nur eine Prognose: „Wir erwarten mehr Grausamkeit, den rücksichtsloseren Einsatz von Waffen und mehr menschliches Leid."
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