"Die Aussage, dass Covid alle gleich trifft, ist total falsch"
811 Millionen Menschen – ein Zehntel der Weltbevölkerung – litten nach Angaben der Vereinten Nationen 2020 an Hunger; rund 2,3 Milliarden konnten sich nicht das ganze Jahr hindurch angemessen ernähren. Warum die Zahlen derart dramatisch sind und was geschehen muss, damit Hunger bald Geschichte ist, erläutert der Direktor des UN-Welternährungsprogramms, David Beasley, im Exlusiv-Interview mit dem KURIER.
KURIER: In Europa beherrscht Corona die Berichterstattung. Welche Folgen hat die Krise für ärmere Länder?
David Beasley: Die Aussage, dass Covid alle gleich trifft, ist total falsch. Als ich meinen Posten 2017 übernahm, betrug die Zahl derer, die akute Probleme haben, sich ausreichend zu versorgen, 80 Millionen. Vor Covid stieg die Zahl auf 135 Mio., bedingt durch von Menschen verursachte Konflikte und den Klimawandel.
Heute sind es 270 Millionen Menschen, die zwar nicht chronisch hungrig sind, aber ums Überleben und die nächste Mahlzeit kämpfen müssen.
David Beasley, 64, ist seit 2017 Exekutivdirektor des World Food Programme. Als dieser hat der republikanische Ex-Gouverneur des US-Bundesstaates South Carolina (1995 bis 1999) den Rang eines Unter-Generalsekretärs der Vereinten Nationen. Beasley ist verheiratet und hat vier Kinder.
41 Millionen davon stehen am Rande einer Hungersnot. Sie leben in 43 Ländern, in denen Hungersnöte, Destabilisierung und Massenmigration drohen, darunter Länder der Sahelzone, Libanon oder Syrien.
Inwiefern ist Corona für Unterernährung und Hunger verantwortlich?
Es ist nicht Covid, es sind die wirtschaftlichen Entscheidungen rund um Covid. Im letzten Jahr gingen 225 Millionen Jobs wegen Covid verloren, Lieferketten wurden unterbrochen, Einnahmen sanken. Äthiopien erzielt etwa 50 Prozent seiner Exporteinnahmen mit dem Tourismus; Nigeria 90 Prozent mit Erdöl, dessen Preis fiel.
Zu Beginn der Pandemie gab es bei Ihnen Probleme, WC-Papier zu bekommen. Stellen Sie sich einmal vor: Wenn es so etwas schon in Österreich oder den USA gibt, wie ist es dann in afrikanischen Ländern?
Wenn man eine Stadt in Europa in den Lockdown schickt, haben die Menschen Vorräte für Wochen zu Hause. Fast alle Menschen, von denen wir reden, leben von der Hand in den Mund. Bei einem Lockdown gibt es entweder Hunger oder Aufstände.
Das WFP arbeitet mit den Regierungen, um ein Sicherheitsnetz zu spannen, das Menschen hilft, zu überleben. Das minimiert das Risiko für Destabilisierung, Unruhen und Massenmigration.
Warum betrifft das Menschen in Europa?
Europa steht in den nächsten Monaten vor einer großen Herausforderung. Es gibt die erwähnten 43 Länder, die vor ernsten Problemen stehen. Wenn sie sich destabilisieren, werden viele ihre Heimat verlassen – wie es in Syrien war. Syrien ist eine Nation mit 21 Millionen Menschen, nur einige Millionen gingen nach Europa.
In der Sahelzone – vom Atlantik bis zum Roten Meer – leben 500 Millionen Menschen. Sie denken, Sie hätten ein Problem mit Syrien? Wenn diese Region destabilisiert wird, sieht Syrien im Vergleich dazu aus wie ein Sonntag-Nachmittags-Picknick.
Wenn Europa das Problem ignoriert, wird es teuer. Einen Syrer in Syrien zu ernähren, kostet beispielsweise 50 Cent am Tag. Der selbe Syrer in Berlin oder Brüssel kostet 50 bis 100 Euro. Es ist viel teurer, das Problem zu ignorieren, als es an der Wurzel zu packen.
Aber wollen viele Menschen nicht einfach nach Europa?
Wir ernähren jeden Tag weltweit 150 Millionen Menschen. Diese Menschen wollen ihre Heimat nicht verlassen, außer es ist der einzige Weg, zu überleben. Sie wollen Essen für ihre Kinder, sie wollen Sicherheit – wie jede andere Mutter und jeder andere Vater auch. Bevor sie gehen, ziehen sie mehrmals innerhalb des eigenen Landes um.
Schenkt die internationale Gemeinschaft dem Hunger genügend Aufmerksamkeit?
Nein, das tut sie nicht. Sie ist zu sehr damit beschäftigt, was Harry und Meghan machen. Aber ich mag Harry, er ist ein Freund. Er würde allem zustimmen, was ich sage.
Was müsste passieren, damit die Zahl Hungernder oder Unterernährter deutlich reduziert werden kann?
Es gibt akute Krisen, die schnell Geld erfordern. Und es gibt die Entwicklung langfristiger, nachhaltiger und effektiver Programme. Wir bitten die internationale Gemeinschaft um die Unterstützung, die wir brauchen, um Abhängigkeiten zu beenden und Resilienz zu schaffen, damit die Menschen Schocks wie Dürre, Fluten, Extremistengruppen oder Wirtschaftskrisen überstehen können.
Ich habe noch keinen Empfänger von Hilfe getroffen, der sich nicht lieber selbst versorgen würde.
Wie kann das konkret aussehen?
In Niger habe ich mit einigen Frauen gesprochen – wenn man etwas erreichen möchte, muss man sich an die Frauen wenden – und sie haben alle dasselbe erzählt: „Mein Mann, mein Sohn will nicht zu Al Kaida, Boko Haram oder dem IS (Terrororganisationen, die sich vor allem aus perspektivenlosen, jungen Männern rekrutieren, Anm.). Aber was sollen wir tun, wir haben nichts. Unser kleines Mädchen hat seit zwei Wochen nichts gegessen.“
Wenn wir mit unseren Programmen kommen, beziehen wir jeden ein, der körperlich in der Lage ist.
Geben Sie uns ein Beispiel.
In den letzten fünf Jahren haben wir mit unseren Hilfsempfängern 1,2 Millionen Hektar Land nutzbar gemacht. Wir haben 65.000 Kilometer Straßen gebaut, 7.500 Brücken, 58.000 Brunnen und Wasserreservoirs.
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (UN World Food Programme, WFP) kämpft weltweit gegen Hunger und Unterernährung. Als größte humanitäre Organisation verantwortet es Nothilfe, etwa bei Konflikten und Umweltkatastrophen, und engagiert sich im Wiederaufbau. Es setzt zudem langfristige Entwicklungsprojekte um und ist für die humanitäre Logistik der UN zuständig.
Finanziert wird das WFP durch Zuwendungen aus Geberstaaten und durch Spenden. 2020 erhielt das WFP, das seinen Hauptsitz in Rom hat und 20.000 Mitarbeiter in 80 Ländern beschäftigt, den Friedensnobelpreis.
Während sich das Klima ändert und die Europäer und andere im Westen über Lösungsmöglichkeiten sprechen, gehen sie weiter zum Supermarkt und kaufen, was sie brauchen.
Die Menschen, über die ich spreche, leben von Tag zu Tag. Wenn sich das Klima in ihrem Gebiet ändert, haben sie kein Essen. Also arbeiten wir mit ihnen, damit sie überleben können. Denn sonst schließen sie sich dem IS an oder migrieren nach Europa.
Wenn wir in ein Land gehen, mit Familien und Kleinbauern arbeiten und sie in Programme für Schulmahlzeiten einbeziehen, passiert folgendes: Migration verringert sich, Teenagerschwangerschaften und Kinderehen von 12-, 13-Jährigen verringern sich. Auch die Rekrutierung durch Terrormilizen.
Das WFP hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 den Hunger in der Welt zu beenden. Kann das gelingen?
Nein. Keine Chance, wenn wir so weitermachen. Wenn wir durch Menschen verursachte Konflikte beenden könnten, würden wir den Hunger besiegen – trotz Klimawandels. 80 Prozent unserer Ausgaben entfallen auf Gebiete, in denen es Konflikte gibt.
Der Einfluss des Klimawandels wird aber größer. 2020 gab es 40 Millionen Vertriebene auf der Welt, 30 Millionen davon wegen des Klimawandels: durch Dürre, Überflutungen, was auch immer. Im Jahr 2050 und mit einer prognostizierten Weltbevölkerung von zehn Milliarden Menschen könnte es eine Milliarde Vertriebene wegen des Klimas sein.
Ein Ende aller Konflikte ist allerdings nicht realistisch.
Konflikte sind lösbar. Die Verantwortlichen müssen zusammenkommen und sie lösen.
Im Jemen (wo Saudi-Arabien und der Iran seit Jahren einen blutigen Stellvertreterkrieg führen, Anm.) ernähren wir 13,5 Millionen Menschen pro Tag, das kostet 100 Mio. Dollar pro Monat. Was könnten wir mir 100 Mio. Dollar in Burkina Faso machen, in Niger, in Mali, im Sudan?
Was bedeutet Unterernährung und Hunger für Betroffene?
Letztes Jahr starben dreimal mehr Menschen an Hunger als an Covid. Wenn Kinder hungern, reduzieren sich vor allem in den ersten fünf Lebensjahren ihre geistigen Fähigkeiten. Unzureichende Ernährung schwächt das Immunsystem. Die stärkste Antwort auf Krankheiten ist ein gutes Immunsystem, man kann nicht gegen alles impfen.
Letztes Jahr forderten sie die Superreichen der Welt auf, einen kleinen Teil ihres Vermögens an das WFP zu spenden. Haben Sie eine Reaktion erhalten?
Lassen Sie mich hier etwas ausholen. Zu Beginn der Coronakrise rief Tony Blair (britischer Ex-Premier, Anm.) mich an. Er sagte: "Hey, David, du reist mehr durch die Welt als jeder andere, was siehst du derzeit?"
Ich sagte: "Tony, ich bin sehr besorgt, dass die Verantwortlichen wegen Covid Entscheidungen in einem Vakuum treffen. Das könnte verheerend sein. Wir müssen die Hunger-Pandamie und die Covid-Pandemie ausbalancieren. Wenn wir nicht aufpassen, wird die Behandlung schlimmer als die Krankheit sein. Wir müssen sicherstellen, dass Lieferketten nicht zerstört werden."
Als ich einige der Länder mit Tony durchging, sagte er: "Mein Gott, dass musst du im UN-Sicherheitsrat erzählen. Und so ging ich im April 2020 in den Sicherheitsrat und zeichnete dort ein breiteres Bild der Krise."
Mit Erfolg?
Die Regierungschefs reagierten tatsächlich. Es gab in den Jahren 2017, 2018 und 2019 eine starke Wirtschaft, es gab genug Einnahmen und finanzielle Reserven, um etwas zu tun. Die Regierungen schnürten wirtschaftliche Hilfspakete, sie stellten Programmen wie uns Geld zur Verfügung. Kreditrückzahlungen von ärmeren Entwicklungsländern gingen nicht an die Weltbank oder den Internationalen Währungsfonds, sondern in den Aufbau von Sicherheitsnetzen in den Ländern.
Viel passierte. Aber jeder dachte, dass Covid Ende 2020 Geschichte sein würde. Jetzt haben wir Juli 2021, fast August.
Das Geld, das 2020 verfügbar war, ist es 2021 nicht mehr. Die Zahl der Menschen, die vor ernsten Problemen stehen, hat sich aber verdoppelt.
Im Sicherheitsrat habe ich damals gesagt, wir stehen vor Hungersnöten biblischen Ausmaßes. Die sind nicht eingetreten, weil wir reagiert haben. Aber wir stehen nun neuerlich davor.
Und die Milliardäre?
Die kommen jetzt ins Spiel. Weil die Regierungen finanziell an ihren Grenzen sind, bitte ich sie: Tretet vor, nicht jedes Jahr, sondern einmal, jetzt in der Krise! Wir benötigen sechs Milliarden Dollar allein für die 41 Millionen Menschen, die am meisten in Gefahr sind. Letztes Jahr, am Höhepunkt von Covid, stieg der Wert der Unternehmen im Besitz der Milliardäre um 5,2 Milliarden Dollar – täglich. Ich frage also nur nach dem Zuwachs von einem Tag, come on!
Auf dem Höhepunkt von Covid gab es alle 17 Stunden einen neuen Milliardär, manche Unternehmen hatten Wertzuwächse 70 Milliarden Dollar.
Hat einer der bekanntesten Milliardäre auf Ihre Forderung reagiert?
(lacht). Naja, schauen wir mal, wenn sie alle wieder aus dem Weltall zurück sind! Ich hoffe, wir machen in den nächsten Monaten Fortschritte. Wir können Menschen nicht mit Hoffnung, Träumen und dünner Luft ernähren.
Wie könnte man große Unternehmen einbinden?
Wir werden die Chefs von großen Agrarkonzernen aus Europa und den USA z. B. in den Sudan bringen und sie bitten, mit uns zu arbeiten. Man kann Hunger nicht durch Wohltätigkeit allein besiegen. Sie ist wichtig, aber die langfristige Lösung ist die Stärkung der Privatwirtschaft, das Einbeziehen kleiner Farmer in das Wirtschaftssystem.
Vor 200 Jahren gab es auf der Welt 1,1 Milliarden Menschen, 95 Prozent von ihnen lebten in extremer Armut. Heute sind es weniger als 10 Prozent in extremer Armut. Wir haben also Systeme aufgebaut in den letzten 200 Jahren, Wohlstand zu teilen und Armut zu verringern. Wir müssen uns nun auf die 10 Prozent konzentrieren – ohne das System zu zerstören, dass die anderen 90 Prozent stützt.
Die Privatwirtschaft muss sich auf ihre soziale Verantwortung besinnen und fragen: Was können wir tun, um zu helfen, mehr Leute in Arbeit zu bringen, Themen wie Korruption und Betrug zu überwinden?
Und was kann jeder einzelne tun, um zu helfen?
Es gibt mehrere Dinge. Österreicher können helfen über ihre Regierung, die konkrete Projekte unterstützt und Einfluss auf andere Länder nehmen kann. Und durch persönliche Spenden, etwa mithilfe der App „Share the Meal“. Mit der kann man Bedürftigen für 25 Cent eine Mahlzeit finanzieren.
Welche Rolle spielen moderne Technologien?
Ein große. Wir setzen zwei Milliarden Dollar jährlich über Bargeldtransfers um und nutzen dabei die Digitalisierung, über Blockchain, Satellitenbilder, biometrische Systeme und künstliche Intelligenz. Beispiel Südsudan: Bei heftigem Regen und Überflutungen können Nahrungsmittel nicht mit LKW geliefert werden, man muss sie von Flugzeugen abwerfen (Air Drops).
Das schaut wirklich cool aus, aber kostet 7 bis 10-mal so viel. Und wie wirft man Öl zum Kochen ab? Dafür braucht man Helikopter.
Unsere IT-Leute arbeiteten daran, die Fallschirme für die Air Drops neu zu designen und auch die Dämpfungssysteme für die Landung. Und sie schafften es. Diese eine Erfindung spart uns rund 24 Millionen Dollar Logistikkosten pro Jahr. Wenn eine Mahlzeit 25 Cent kostet, sind das 100 Millionen Mahlzeiten für Kinder. So denken wir.
Mehr Informationen über die Arbeit des World Food Programme und Spendenmöglichkeiten finden Sie hier.
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