Steigende Zahlen, aber keine Lösung im EU-Migrationsstreit
Zu Stahlgitterzäunen, Drohnen und Wärmebildkameras kommen nun auch noch Schallkanonen: An den besonders gefährdeten Abschnitten der 200 Kilometer langen Landgrenze zur Türkei lässt die griechische Grenzpolizei bei Bedarf Höllenlärm los – in etwa so laut wie ein in 30 Metern Entfernung vorbeidonnerndes Kampfflugzeug. So sollen Flüchtlinge und Migranten davon abgehalten werden ins Land zu kommen.
Dänemark wiederum feilt an einem anderen Konzept der Abschreckung: Die sozialdemokratische Regierung setzte ein Gesetz durch, das Asylzentren im außereuropäischen Ausland ermöglicht. Asylbewerber würden demnach in – mutmaßlich afrikanische – Drittländer ausgeflogen. Dort müssten sie ausharren, bis ihr Antrag in Dänemark behandelt ist.
Österreichs Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) kann diesem Konzept einiges abgewinnen. Und: Man solle „schon vor den EU-Außengrenzen damit beginnen, Menschen wieder zurückzubringen in ihre Herkunftsländer, wenn diese keine Chance auf Asyl haben“, sagte er beim jüngsten Treffen der EU-Innenminister in Luxemburg.
Doch von Schallkanonen bis zu irgendwohin ausgelagerten Asylzentren hegt man bei der EU-Kommission in Brüssel schwere Bedenken: Seit mittlerweile fünf Jahren versucht die Behörde die 27 EU-Staaten zu einer einheitlichen Migrations-und Asylpolitik zusammenzuschweißen. So sollten künftige Migrationsströme besser bewältigt und legale Migration besser gesteuert werden.
Auf eigenen Wegen
Doch der europäische Migrationspakt kommt nicht und nicht vom Fleck. Immer mehr Staaten scheren auf eigene Wege aus, während die Migrations- und Flüchtlingszahlen langsam wieder zu steigen.
Im Vorjahr blockierte die Coronapandemie viele Migrations-und Fluchtrouten: Nur 124.000 illegale Grenzübertritte registrierte die EU-Grenzschutzagentur Frontex 2020 – so wenige wie seit mehr als zehn Jahren nicht mehr. Spätestens aber seit Frühling steigen wieder Tausende Menschen in Boote, und versuchen nach Spanien, Griechenland, Zypern, Malta und Italien zu kommen.
Unter Druck
Ganz besonders der italienische Premier Mario Draghi bekommt diesen erneuten Migrationsdruck zu spüren. Allein an einem Wochenende im Mai landeten 1.400 Flüchtlinge auf Lampedusa. Insgesamt hat Italien heuer laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bereits rund 15.000 Flüchtlinge und Migranten – die meisten stammen aus Tunesien und Algerien – aufgenommen.
Die massiv steigenden Zahlen treiben Italiens Rechtspopulisten bereits wieder Anhänger zu: Laut Umfragen stellen die beiden großen rechten Parteien des Landes bereits mehr als 40 Prozent der Wähler.
Umso massiver drängt Premier Draghi: Eine europäische Lösung für die Migrationsfrage müsse endlich gefunden werden. Beim nächsten EU-Gipfel Ende Juni in Brüssel will er die Debatte zur Chefsache machen. Er drängt darauf, dass EU-Mitgliedsländer wie Deutschland, Österreich oder Dänemark dem Land Flüchtlinge abnehmen.
Umstrittene Verteilung
Doch das Problem, an dem die EU-Staaten sich wieder und wieder zerfleischen ist die Frage der Verteilung: Wer nimmt wie viele Asylsuchende – eventuell per Quote – auf?
„Gar keine“, sagen kategorisch die türkis-grüne Regierung in Wien ebenso wie die meisten osteuropäischen Staaten. Das Argument Österreichs: Man habe schon bisher verhältnismäßig mehr Asylsuchende aufgenommen als die meisten anderen EU-Staaten.
Auch die jüngsten Angebote der EU-Kommission für ein „ flexibleres, solidarischeres“ Vorgehen verfing nicht. Bei Europas Migrationskurs hakt es an allen Enden: von der umstrittenen Verteilung von Asylsuchenden bis zur Rückführung abgewiesener Asylwerber. Trotz aller Versprechen hat sich bis heute nichts geändert: Zwei von drei Menschen, die den Weg in die EU einmal geschafft haben, bleiben auch.
Steigende Asylzahlen
Das wiederum bekommt Österreich zu spüren – wo die Asylzahlen steigen – ebenso in Deutschland und Frankreich. Italien dagegen registrierte heuer bis April nur rund 12.000 Asylansuchen – ein klares Zeichen, dass viele Migranten nicht in Italien bleiben wollen.
Bei allem Versäumnissen steht auch noch die EU-Grenzschutzagentur Frontex unter Beschuss. Die EU-Agentur, die dabei helfen soll, Europas Außengrenzen zu schützen und grenzüberschreitende Kriminalität zu verhindern, sei nicht in der Lage, die illegale Migration ausreichend und wirksam zu bekämpfen. Zu diesem vernichtenden Schluss kam diese Woche der Europäische Rechnungshof.
Der Präsident der Behörde, Klaus-Heiner Lehne, sprach in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sogar von einem „herausragenden Fall“ organisatorischer Defizite.
Doch das große Versagen von Europas Migrationsfrage Frontex zuzuschieben, verzerrt das Bild: Nur 1.500 Frontex-Grenzschützer sind in der ganzen EU im Einsatz. Bis 2027 sollen sie auf 10.000 Grenzschützer aufgestockt werden.
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