"Viele sagen mir, sie wollten nie Asyl"

Migrants are seen after being intercepted by Libya's GNA interior ministry before attempting a journey to Europe at a security checkpoint in the city of Khoms
Europa müsse in der Flüchtlingsdebatte endlich zwischen Flucht und Wirtschaftsmigration unterscheiden, sagt die Expertin Melita Šunjić.

Von extremen Standpunkten halte sie nichts, sagt Melita Šunjić. Die Migrationsexpertin will sich auf Fakten stützen in einer Debatte, die vor allem von Emotionen lebt. Das Thema Flucht begleitet die 65-Jährige bereits ihr ganzes Leben lang. Einst ist sie als Flüchtlingskind aus Jugoslawien nach Österreich gekommen, lange war sie Sprecherin beim UNHCR, mittlerweile ist sie Beraterin in Migrationsfragen.

In ihrem Buch ("Die von Europa träumen") hat Šunjić ihre Erfahrungen aus Tausenden Begegnungen mit Flüchtlingen und Migranten niedergeschrieben. Den Anfang machen neun Geschichten von Betroffenen, in welchen die typischen Fluchterfahrungen und Beweggründe geschildert werden.

Sind die Geschichten in Ihrem Buch wirklich alle wahr?

Wenn man viele Interviews führt, dann ergeben sich so typische Muster. Ich wollte diese typischen Geschichten herausfassen. Alle Details sind wirklich von Menschen erlebt worden. Ich habe es nur fiktionalisiert, weil ich den Leuten immer versprochen habe, Vertraulichkeit zu wahren. Das heißt, die Geschichten sind soweit modifiziert, dass sie keinen Rückschluss auf den eigentlichen Erzähler zulassen. Aber sie sind keineswegs frei erfunden, noch sind sie übertrieben. Das sind Geschichten, die sich Asylbehörden und und NGOs praktisch tagtäglich anhören.  

Sie beschreiben etwa auch die "klassische" Reise von Afghanistan nach Europa. Wie läuft die ab? Und wer ist der Reisende?

Direkt aus Afghanistan kommen sehr oft ganz, ganz junge Burschen. In dieser sehr patriarchalischen, archaischen Gesellschaft sagt dann der pater familias, der Vater, der Großvater, „jetzt ist Zeit für dich, nach Europa zu gehen“. Aus zwei Gründen. Das eine ist, dass junge Burschen - oft halbe Kinder - tatsächlich von den Taliban und anderen islamistischen Gruppen zwangsrekrutiert werden, um zu kämpfen. Davor wollen sie das Kind schützen. Das andere ist die Hoffnung auf eine ökonomische Unterstützung.

Die Schleppernetzwerke in Afghanistan existieren seit Jahrzehnten – sie sind wie Reisebüros. Man bucht eine Reise aus einer großen Stadt in Afghanistan bis zu einer bestimmten Stadt, oder Land in Europa. Die Burschen reisen in kleinen Gruppen. Die bekommen einen Führer zur Seite gestellt, den sie Onkel nennen. Das ist eine Respektsbezeichnung, wie man sie früher auch bei uns am Land benutzt hat. Die Schlepper sind sehr angesehene Leute. Sie betreiben ein übernationales Netzwerk.

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