Viele Tabus sind gefallen – seit dem russischen Angriff auf die Ukraine haben sich in der EU die Prioritäten verschoben. Auch darum geht es ab heute beim EU-Gipfel.
Die vielleicht schwierigste Strecke im Ukraine-Krieg steht Europa jetzt unmittelbar bevor: Unter den 27 EU-Staaten geeint zu bleiben, während die militärische Lage im Osten der Ukraine immer düsterer wird. Bereits heute, Montag, beim EU-Sondergipfel in Brüssel drohen alte Risse wieder aufzutauchen: Ungarns Premier Viktor Orbán will über ein EU-weites Ölembargo gegen Russland gar nicht reden.
Die baltischen Staaten und Polen pochen auf größtmögliche Härte gegen Russland, während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf Verhandlungen drängt.
Ist sie also schon wieder vorbei, die Zeit der Einigkeit in der EU? Und wie haben die drei Monate seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine die EU verändert?
Energie: Weg von Russland
Knapp 70 Milliarden Euro hat die EU seit Kriegsbeginn für importiertes Gas und Öl an Russland überwiesen. Damit wird zum Teil die russische Kriegsmaschine am Laufen gehalten.
Aber auch aus Sorge, dass der Kreml Europa das Gas abdrehen könnte, hat Brüssel beschlossen, dass Europa bis 2030 völlig unabhängig von russischem Gas sein muss. Kohleeinfuhren werden ab Sommer gestoppt, die Ölimporte sollen zumindest auf dem Seeweg nach Europa bis Jahresende beendet werden (das sind 90 Prozent aller russischen EU-Ölimporte).
Stattdessen wird kurzfristig auf den massiven Import von Flüssiggas etwa aus den USA gesetzt. Mittelfristig sollen die erneuerbaren Energieträger schneller als geplant gebaut werden.
Wirtschaft: Sanktionen
Fünf Sanktionspakete haben die EU-Staaten überraschend schnell geschnürt: Sie zielen gegen die Mehrheit der russischen Banken, gegen Dutzende Unternehmen und fast 1.000 Personen. Ziel ist die massive ökonomische Schwächung Russlands. Nachteil: Die Sanktionen treffen auch die heimische Wirtschaft, die Inflation steigt wegen der hohen Energiepreise und unterbrochener Lieferketten weiter.
Flüchtlinge: Schnelle Hilfe
Bereits eine Woche nach Kriegsbeginn hat sich die EU geeinigt, den Flüchtlingen aus der Ukraine vorübergehenden Schutz zu gewährend: Über fünf Millionen Vertriebene erhalten so Zugang zu Bildung, Arbeit und Gesundheit – ohne lange und mühsame Asylverfahren.
Verteidigung: Waffenlieferung
Ein Tabu ist gefallen: Erstmals liefert die EU Waffen an ein kriegsführendes Land. Genauer gesagt liefern die willigen Staaten, finanziert wird dies aus einem gemeinsamen EU-Topf – bisher wurden Transporte in Höhe von zwei Mrd. Euro bewilligt. Zudem haben die bündnisfreien Staaten Schweden und Finnland beschlossen, der NATO beizutreten.
EU-Erweiterung: Angebot an die Ukraine
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen überraschte mit dem Angebot, die Ukraine in die EU zu holen. Anfangs massiv umstritten, stellt sich nun kein EU-Staat mehr kategorisch dagegen, der Ukraine den Kandidatenstatus zu gewähren. Das gilt als Zeichen der symbolischen Unterstützung für Kiew. Faktisch bedeutet es wenig: Nordmazedonien erhielt schon vor 17 Jahren Kandidatenstatus – und hat noch immer keine Verhandlungen über einen EU-Beitritt begonnen. Doch dass die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau Ende Juni Kandidatenstatus erhalten, wäre vor dem Krieg völlig undenkbar gewesen.
Verändert hat der Krieg auch den Blick auf die europäischen Gewinner und Verlierer jenseits der Schlachtfelder: Polen etwa, das sich mit riesiger Hilfsbereitschaft gegenüber ukrainischen Flüchtlingen auszeichnet, kooperiert wieder besser mit Brüssel. Demnächst dürften damit die bisher blockierten Milliardensummen des Corona-Wiederaufbaufonds nach Warschau fließen.
Die Verlierer
In der Reihe der Bremser beim EU-Kurs gegen den Kreml steht damit Ungarn derzeit ganz alleine da.
Und mit massivem Imageverlust hat auch Deutschlands Kanzler Olaf Scholz zu kämpfen. "Seine Reputation hat in den vergangenen Wochen schwer gelitten", sagt Camino Mortera-Martinez. Die Leiterin des Brüssel-Büros des Think Tanks Centre for European Reform (CER) kritisiert "das Zweifeln und Schwanken innerhalb der deutschen Regierung, sei es beim Gas-Embargo, sei es bei der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Das hat Berlins politisches Kapital in der EU erodieren lassen."
Als den einflussreichsten Politiker in der EU sieht die Europa-Expertin daher "Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Seine Ideen sind nicht immer umsetzbar, aber wenigstens wagt er es, sie auf den Tisch zu legen."
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