Ich meinte „sicher“ in einem positiven Sinn ...
Das ist mir bewusst – und genau da liegt das Problem. Wir Europäer sind ahistorisch geworden. Wir haben es uns in einem Alltag gemütlich eingerichtet, in dem wir davon ausgehen, dass sich rund um uns nichts ändern darf. Aber so funktioniert die Welt nicht. In der Geopolitik gibt es keinen Alltag, schon gar keinen gemütlichen. Fukuyamas Idee, dass die Geschichte irgendwann zum Stillstand kommt, weil alle Staaten kapitalistisch und demokratisch sein wollen, ist eine Illusion.
Wie kann man erklären, dass trotz Internet und digitaler Verbreitung von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten, ganz andere Entwicklungen um sich greifen?
Wir haben immer gedacht, ein Mehr an Informationen bedeutet, dass die Menschen aufgeklärter werden – aber das ist falsch. Informationen sind wie Speisen. Man kann das nicht einfach in sich hineinstopfen, man muss das verdauen können – und dazu sind sehr viele Menschen nicht in der Lage. Hinzu kommt, dass wir nicht verstanden haben, dass unsere Gehirne nicht für das 21. Jahrhundert gemacht sind.
Was meinen Sie?
Unser Gehirn ist gebaut für kleine Gruppen und überschaubare Konflikte, wie es sie seit Tausenden von Jahren gibt. Wenn ich heute weiß, dass in der Ukraine Menschen sterben oder dass im Weißen Haus ein Verrückter sitzt, sind das Informationen, mit denen viele nicht umgehen können, weil sie die Situation nicht ändern können. Die Reaktion ist eine Lähmung. Und sie verursacht den Impuls, dass sich Menschen eine einfachere Welt zurückwünschen – wir sind nicht gemacht für die Komplexität der globalisierten Welt.
Das Internet hat nicht zur Demokratisierung der Welt beigetragen?
Ich fürchte nicht. Als Mensch versucht man intuitiv zu bestätigen, was man schon weiß. Deshalb werden wir mit dem Alter sturer. Egal, wie viele Bücher wir im Laufe des Lebens lesen – irgendwann kommt ein Punkt, an dem die Meinung nicht mehr infrage gestellt wird. Die Quantität von Information ändert nichts an meinem Wissen. Das Einzige, was hier hilft, ist, sich selbst infrage zu stellen. Nur dann ist man in der Lage, mehr Informationen aufzunehmen.
Bleiben wir beim Lernen: Was haben wir als Gesellschaft nach drei Monaten Krieg gelernt?
Wir haben gelernt, dass sich die Dinge ständig ändern und dass wir immer überrascht werden: der Brexit, die Trump-Wahl, die Pandemie, der Ukraine-Krieg: Langsam sollten wir sehen, dass Überraschungen Teil der Geschichte sind. Außerdem haben wir gelernt, dass wir als Europäer zusammenhalten und dass die Ukrainer bereit sind, für unsere Werte zu sterben. Ob wir selbst das auch wären, ist offen.
Und Russland?
Hier wurde eine Illusion zerstört. Es gab immer die Hoffnung, dass man – bei allen Verschiedenartigkeiten – mit Russland zusammenarbeiten kann. Dieser Zug ist endgültig abgefahren.
Wird sich der Zustand Russlands ändern? Kann man auf Änderungen hoffen – etwa, wenn die Wirtschaft leidet?
Das ist ein typisch europäischer Gedanke. Ja, die Wirtschaft kann bei politischen Veränderungen eine Rolle spielen, aber Geld ist längst nicht alles. Krieg kostet unglaublich viel Geld, und trotzdem geht es nicht um Geld. Es geht um Werte, Identität, Gemeinschaft, all das sehen wir in der Ukraine. Und deshalb dauern Bürgerkriege ja oft so absurd lange – weil es den Menschen am Ende um ganz andere Dinge geht als um Geld oder die Wirtschaft.
Wann endet ein Krieg?
Auf zwei Arten: Entweder, weil die eine Seite die andere besiegt. Oder weil eine oder beide Seiten erkennen, dass sie nicht gewinnen können. Warum dauert das so lange? Weil man bis zuletzt hofft, gewinnen zu können. Der Durchhaltewille ist oft größer als der Schmerz.
Kann dieser Konflikt zum Weltkrieg werden?
Eher nicht. Ich glaube, dass die Situation so bleibt, wie sie ist – Russland und die Ukraine als Gegner. Alle Beteiligten wissen, wie rasch ein Krieg außer Kontrolle gerät.
Und ein Atomschlag?
Ist meines Erachtens nicht wahrscheinlich. Atomwaffen sind Zirkuspferde, die nur einen Trick beherrschen. Sie können nur Angst machen, weil einmal eingesetzt, beenden sie für alle Beteiligten den Konflikt und die eigene Existenz.
Putin will nicht weiter eskalieren?
Ich glaube nicht. Russland hat sein Ziel erreicht, nämlich Europa in Angst zu versetzen. Schauen sie sich den offenen Brief von Alice Schwarzer an, der ja eine Kapitulation der Ukraine fordert. Genau das gefällt Moskau.
Das klingt, als würde Putin rational agieren.
Russland will keinen Weltkrieg auslösen, sondern uns glauben machen, dass man dazu fähig wäre. Russland will in der Welt eine Rolle spielen. Aber der Kreml will keinen Selbstmord begehen.
Was halten Sie von der Neutralität und der Debatte darum in Österreich?
Die Schweiz hat eine wehrhafte Demokratie und Neutralität. Das Militär dort ist in der Lage, das Land zu verteidigen, die Männer haben eine Waffe zu Hause, etc. In Österreich ist das eher defensiv angelegt und ein Fehler scheint mir auf der Hand zu liegen, nämlich anzunehmen, dass Europa die nächsten Jahrzehnte genauso aussieht wie jetzt.
Ist die umfassende Aufrüstung in Europa tatsächlich die Antwort auf diesen Krieg?
Ja. Wenn wir in die Abschreckungslogik zurückgehen, reicht es zu signalisieren: Ich lasse nicht alles mit mir geschehen. Es geht darum, glaubwürdig zu vermitteln, dass man gewillt ist, seine Werte zu verteidigen. Derzeit ist Europa dazu nicht in der Lage. Wir brauchen die Amerikaner, die müssen uns im Falle des Falles die Kuh von der Alm holen. Die Frage ist nur: Wissen wir, wer der nächste US-Präsident ist? Und wollen wir unsere Sicherheit ganz in die Hände der Amerikaner legen?
Gehört der Krieg in der Welt einfach dazu?
Wir haben das Phänomen Krieg längst nicht verstanden. Und wir sind noch weit davon entfernt, die friedlichste Phase der westlichen Welt zu erleben – dafür fehlen uns 100 kriegsfreie Jahre. Insofern lautet die Antwort: Ja, vorerst müssen wir wohl damit leben, dass es Krieg immer geben wird.
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