Ukraine-Krieg: Der Westen sucht nach einem Ausweg
Mit westlicher Hilfe weiterkämpfen und auf eine äußerst unwahrscheinliche Niederlage Russlands hoffen – oder als Preis für Frieden schmerzhafte, aber unvermeidliche Gebietsverluste akzeptieren: Vor dieser Wahl steht die Ukraine drei Monate nach Kriegsbeginn. Zumindest wenn es nach den lauter werdenden Stimmen in USA und Europa geht, die angesichts der derzeitigen russischen Erfolge im Donbass ein Überdenken der Waffenlieferungen an Kiew fordern und die dortige Regierung zu Zugeständnissen drängen.
"Sieg unrealistisch"
Es gebe im Westen zwei Gruppen, fasst der britische Economist zusammen: Die „Friedenspartei“ und die „Gerechtigkeitspartei“. Erstere plädiere für ein Ende der Kämpfe und rasche Verhandlungen zwischen Ukraine und Russland, während Zweitere den Aggressor nicht einfach davonkommen lassen wolle.
Der bekannteste Vertreter der „Friedenspartei“ ist Ex-US-Außenminister Henry Kissinger. Der 99-Jährige schlug der Ukraine diese Woche beim Weltwirtschaftsforum in Davos vor, für das Zustandekommen von Friedensgesprächen Gebiete an Russland abzutreten.
Zudem appellierte er an den Westen, Russland nicht weiter auszugrenzen. Der Status quo vor Kriegsbeginn solle wiederhergestellt werden, als Russland neben der Krim bereits große Teile des Donbass kontrollierte, so Kissinger.
Der Polit-Veteran denke wohl, es sei 1938, konterte der ukrainische Präsident Selenskij per Video. 1938 sprachen Großbritannien, Frankreich und Italien dem deutschen Diktator Hitler Teile der Tschechoslowakei zu in der Hoffnung, er würde weitere Gebietsansprüche fallen lassen.
Wenige Tage vor Kissinger hatte die New York Times in einem Leitartikel die fehlende Strategie der USA als wichtigstem Verbündeten der Ukraine beklagt. Es sei unrealistisch, dass die Ukraine alle seit 2014 verlorenen Gebiete zurückerobern könne, auch mit noch so großer Unterstützung, schrieb das sonst klar aufseiten Kiews stehende Blatt. Jede weitere Waffenlieferung sei nicht nur teuer und vor den Wählern auf Dauer nicht vertretbar, sondern verlängere nur den Krieg und das Leid der Menschen.
Zudem steige das Risiko, selbst ins Visier Wladimir Putins zu geraten oder diesen in die Defensive zu drängen. Was zum Einsatz nuklearer oder chemischer Waffen führen könnte.
Mal so, mal so
Zu den Unterstützern einer Verhandlungslösung werden auch Frankreich, Italien und Deutschland gezählt, zu denen einer fortgesetzten Unterstützung der Ukraine die baltischen Staaten, Polen und Großbritannien.
Für Letztere gibt es keine Alternative zu einem militärischen Sieg: Jedes Entgegenkommen werde Putin zu weiteren Feldzügen ermuntern und die Sicherheit Europas mehr gefährden als Waffenlieferungen, sagen sie.
Beide Seiten haben gute Argumente, was es für die USA und andere Länder nicht einfacher macht, Stellung zu beziehen. So sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin etwa nach einem Besuch in Kiew im April, der Westen müsse der Ukraine helfen, zu gewinnen, und Russland dauerhaft schwächen. Wenige Wochen später forderte er nach einem Gespräch mit seinem russischen Kollegen Sergej Schoigu eine „sofortige Waffenruhe“.
Derzeit wird in der US-Regierung diskutiert, ob man der Ukraine wie erbeten Langstrecken-Raketensysteme liefern solle. Eine Debatte, die an das wochenlange Ringen Deutschlands erinnert, Kiew schweren Waffen zuzusagen.
Innerhalb der NATO soll es laut dpa informelle Absprachen geben, auf die Lieferung bestimmter Waffensysteme zu verzichten, um eine direkte Konfrontation mit Russland zu verhindern.
"Ukraine entscheidet"
Ob sie kämpfen oder verhandeln wolle, müsse die Ukraine selbst entscheiden, heißt es von Washington bis Warschau. Eine Frage, die sich ohne westliche Waffen nicht stellen würde und die Selenskij auch nicht beantwortet. „Die Ukraine kämpft, bis sie ihr gesamtes Territorium zurück hat“, sagte er in Davos. Er würde aber mit Russland sprechen, wenn sich dieses auf die Frontlinien von vor Kriegsbeginn zurückziehe.
Kommentare