Tag für Tag, Woche für Woche mehren sich die Artillerieangriffe auf zivile Wohngebäude und Einrichtungen – mit immer schweren Waffensystemen: Etwa die 2S7 Pion – eine 46 Tonnen schwere Kanone auf Selbstfahrlafette, die diese Woche bei der Belagerung der Stadt Charkiw zum Einsatz kam.
"Gezielte Angriffe auf militärische Infrastruktur", hatte es zu Beginn des Krieges noch von Moskau geheißen. Der Krieg und wie er geführt wird, produziert Bilder, die vor allem in Mitteleuropa für Entsetzen sorgen. So etwas habe man nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr für möglich gehalten, lautet der Tenor.
Freilich zeugen Hunderte, wenn nicht Tausende Städte weltweit davon, dass der Krieg seit 1945 nicht "sauberer" geworden ist. Mossul im Irak, Aleppo in Syrien, Marawi auf den Philippinen sind nur drei Beispiele dessen, was auf die Ankündigung "chirurgischer Luftschläge" folgte.
"Das Problem ist, dass der Mensch glaubt, dass er durch präzise Waffensysteme den Krieg etwas sauberer gestalten kann. Durch all diese Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte, beispielsweise den punktgenauen Einsatz von Waffensystemen, koordiniert über Satellitenkommunikation, Drohnen, die ein Ziel bis zum Beschuss beobachten können" sagt Reisner. "In der direkten Konfrontation kommt es dann aber anders. Am Beginn eines Krieges versucht man mit einem sogenannten Eröffnungsschlag eine Entscheidung herbeizuführen. Wenn dies nicht gelingt, dann entgleitet es meistens."
Als ein Beispiel nennt er Libyen, wo westliche Staaten vor elf Jahren einen Luftkrieg gegen das libysche Regime geführt hatten. "Heute gibt es dort zwei Fraktionen, die sich gegenüberstehen und einander mit Söldnern und Drohnen bekämpfen."
Der Mensch habe versucht, gewisse Regeln für die Kriegsführung zu erstellen – spätestens nach Ende des Zweiten Weltkriegs: "Man wollte sich darauf einigen, dass der Krieg nicht mehr das politische Mittel der Wahl ist, entwickelte das Kriegsvölkerrecht weiter – das Recht zum Krieg sowie das Recht im Krieg." Beispielsweise die Unterscheidung in Soldat und Zivilist, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die Maxime, dass in einem Krankenwagen keine Munition transportiert werden darf sowie den allgemeinen Grundsatz der Menschlichkeit: "Wenn sich zum Beispiel ein Soldat ergibt und man sieht, dass er nicht mehr kämpfen kann, ist ihm Gnade zu gewähren", sagt der Generalstabsoffizier.
Eingehalten wurden diese Regeln im Ernstfall freilich nur bedingt. Reisner: "Etwa in Afghanistan, wo statt eines Taliban-Führers eine Hochzeitsgesellschaft getroffen wird, oder im Bergkarabach-Konflikt, wo mit Drohnen zum Teil doppelte Angriffe durchgeführt wurden. Ein erster Schlag und dann, wenn die Soldaten versuchen, ihre Kameraden zu retten, der zweite Schlag."
Im Ukraine-Krieg komme erschwerend hinzu, dass sowohl die russischen als auch die ukrainischen Streitkräfte nach wie vor aus der Sowjet-Zeit geprägt seien – und dadurch über eine hohe Zahl an schwerer Artillerie verfügen: "Bei den Mehrfachraketenwerfern ist etwa Präzision kein Thema – und wenn damit Städte beschossen werden, noch viel weniger."
Neben der Artillerie wird auch die Infanterie aus dem Schlachtfeld nicht wegzudenken sein: "Sie ist in der Kriegsführung absolut entscheidend, wenn es darum geht, in Besitz genommenes Gelände zu halten, dauerhaft zu kontrollieren", sagt Reisner. Nur Soldaten aus Fleisch und Blut könnten mit der Zivilbevölkerung interagieren, sie im positiven Sinne versorgen – im negativen Sinne unterdrücken.
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