Die Ukraine rechnet jederzeit mit einem Start der russischen Großoffensive im Osten und Süden des Landes. Wie geht es dann weiter? Und wann könnte der Krieg aus jetziger Sicht enden?
Seit Tagen berichten ukrainische Soldaten, westliche Geheimdienste und Militärexperten von einem russischen Großangriff auf die Regionen Donezk und Lugansk sowie Cherson. Nach wie vor seien russische Militär-Konvois dorthin unterwegs, sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij in einer Ansprache. Während Raketen-, Bomben- und Artillerieangriffe fortgesetzt werden, versuchte Moskau offenbar, weitere Ukrainer im Donbass anzuwerben. Auch ein erneuter Angriff auf die Hauptstadt Kiew sei nicht ausgeschlossen, hieß es aus Moskau.
Das widerspricht an sich der allgemeinen Annahme einer Neuorientierung der russischen Zielsetzung. Aber auch der Sicherheitsexperte Gustav Gressel vom European Council On Foreign Affairs in Berlin meint: "Wenn ich mir die russische Propaganda ansehe, ist das Ziel, die Ukraine als Ganzes zu unterwerfen, noch nicht vom Tisch."
Niemand kann vorhersagen, wie und wann der Krieg in der Ukraine endet. Doch es gibt wahrscheinlichere und unwahrscheinlichere Szenarien. Auch einen Sieg der Ukraine halten Militärexperten und Politologen (noch) für möglich.
Dafür braucht es laut Sabine Fischer von der deutschen Stiftung für Wissenschaft und Politik jedoch sowohl mehr Waffenlieferungen als auch strengere Sanktionen. Das Argument, den ukrainischen Truppen fehle es an der entsprechenden Ausbildung, lässt sie nicht gelten: "Der Krieg wird dauern – und zu viel Zeit ist schon verloren gegangen."
Dafür müssten die Russen zurückgedrängt werden, die ukrainischen Truppen von Verteidigung auf Angriff schalten. Das geht nur mit mehr Waffen. Bisher wurden zwei Argumente gegen mehr Waffenlieferungen genannt: Putin könnte das als Kriegsbeteiligung werten und den Angriff – womöglich nuklear – über die Grenzen der Ukraine ausweiten. Weiters fehle es den ukrainischen Truppen an der entsprechenden Ausbildung, moderne Waffen bedienen zu können. Was die Ukraine im Vergleich zu Russland hat, ist Manpower: Die Soldaten wissen, wofür sie kämpfen. Das stärkt die Moral.
Szenario 2: Sieg durch Sanktionen
"Waffen und Sanktionen sind nicht alternativ, sondern komplementär: Waffen helfen jetzt, sich zu verteidigen. Sanktionen reduzieren mittelfristig Russlands Fähigkeit, den Krieg zu führen", sagt Expertin Fischer. Schließlich müssen Panzer und Flugzeuge gewartet werden. Der Westen hat den Export von Kriegszubehör nach Russland zwar verboten, mit China oder Indien kann Putin weiterhin Geschäfte machen. Auch könnte sich die Annahme, dass sich die Russen aus Unzufriedenheit gegen Putin stellen, als falsch erweisen: Die Wut der Russen könnte sich auch gegen den Westen richten.
Szenario 3: Kapitulation Selenskijs
"Aufgeben", empfahl der deutsche Politikwissenschaftler Johannes Varwick schon zu Kriegsbeginn – zu hoch sei der blutige Preis für die territoriale Integrität der Ukraine. Experte Gressel warnt allerdings vor der Annahme, für Putin sei die Unterwerfung der ganzen Ukraine vom Tisch: Die Sammlung der russischen Truppen im Osten habe auch mit der Sicherung der Versorgungskette aus Russland zu tun und muss keine endgültige Umorientierung der russischen Kriegsziele bedingen: "Russland könnte versuchen, die ukrainischen Streitkräfte langsam zu ermatten."
Szenario 4: Waffenstillstand
Ein Waffenstillstand käme einem negativen Frieden gleich: Das Feuer wird eingestellt, politische Konflikte werden aber nicht gelöst. Russland würde diesen als Atempause nutzen und einen neuen Angriff, etwa in den nächsten Monaten starten, vermutet Experte Gressel. Nur dann wäre ein Waffenstillstand für Putin derzeit innenpolitisch erklärbar. Gressel: "Russland denkt in längeren Zeiträumen, in denen es mit China die westliche Vorherrschaft brechen will. Dabei machen ein weiterer Monat oder ein weiteres Jahr Krieg keinen Unterschied – auch wenn dieser schmerzhaft ist."
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