Es geht also doch ohne Geschrei und ständiges Unter-die-Gürtellinie-Treten. Zu den erstaunlichsten Erkenntnissen des einzigen TV-Duells der amerikanischen Vize-Präsidentschaftskandidaten vor der Wahl in fünf Wochen, die sich am Dienstagabend gut 100 Minuten in New York gegenüberstanden, war der über weite Strecken zivilisierte, beinahe höfliche Ton.
J.D. Vance, Donald Trumps Begleiter im Kampf um das Weiße Haus, und Tim Walz, der Sozius von Kamala Harris, äußerten bei allen beinharten Meinungsverschiedenheiten mehr als ein Mal eine gewisse Wertschätzung füreinander. Ein rares Ereignis in Amerika. Am Ende stand ein klares 1:1-Unentschieden.
Vance blieb ausdauernd bei seiner Strategie, die man am einfachsten so beschreiben kann:
Alles, was in Amerika angeblich total schiefläuft, von Inflation, hohen Verbraucherpreisen, zu vielen illegalen Einwanderern, Wohnungskrise bis hin zur Waffengewalt, geht auf Kamala Harris` Konto (obwohl die amtierende Vize-Präsidentin qua Hierarchie immer in der zweiten Reihe hinter Amtsinhaber Joe Biden steht).
Miserable Beliebtheitswerte
Darum, so der Jung-Senator aus Ohio (40), sei es purer Etikettenschwindel, wenn die frühere Chef-Anklägerin Kaliforniens sich nun als Anwältin des Wandels und neuer Politik-Entwürfe präsentiere. „Wenn Kamala Harris so großartige Pläne hat, um die Probleme der Mittelschicht anzugehen, dann sollte sie diese jetzt umsetzen - nicht, wenn sie um eine Beförderung bittet, sondern in dem Job, den das amerikanische Volk ihr vor dreieinhalb Jahren gegeben hat.”
Vance war eingedenk miserabler Beliebtheitswerte in Umfragen erkennbar daran gelegen, sympathisch(er) zu wirken und sich die spitzen Kanten abzuschleifen, die er mit vielen verhetzenden Äußerungen über Harris/Walz in den vergangenen Wochen erzeugt hatte.
Er griff Walz, mit dem er zuvor noch „den Boden aufwischen" wollte, nie persönlich an, zeigte sogar Anteilnahme, als der 60-Jährige davon berichtete, dass sein 17-jähriger Sohn Gus Augenzeuge einer Schießerei geworden sei. Einmal sagte der dreifache Familienvater sogar, er glaube Walz, dass er das Problem mit der illegalen Einwanderung lösen wolle - nicht aber Kamala Harris.
Vertrauen zurückgewinnen
Auffällig war, wie oft Vance (mutmaßlich zum Missfallen Trumps, der Konzessionen an die Opposition prinzipiell verabscheut) Ansätze von Selbstkritik zeigte. So räumte er ein, dass seine abtreibungsfeindlichen Äußerungen (und indirekt damit auch die Trumps) in der Vergangenheit bei Wählern Fragen aufgeworfen hätten und viele Amerikaner hier das Vertrauen in die Republikaner verloren hätten. „Wir müssen sehr viel mehr tun, um das Vertrauen der Amerikaner zurückzugewinnen“, sagte er. Im nächsten Moment erklärte Vance, dass er Walz, sollte er der nächste Vizepräsident werden, seine „Gebete, seine besten Wünsche und seine Hilfe” anbieten würde.
Ob diese Art der Anbiederung an gemäßigte, möglicherweise noch unentschlossene Wähler funktioniert, ist offen. Vance` Chef schien nicht begeistert über die pflegliche Behandlung von Walz gewesen zu sein. Nach einer Stunde grätschte Donald Trump auf seinem Kommunikationsportal „Truth Social" mit der barschen Anmerkung dazwischen, Walz sei unqualifiziert - „ein totaler Witz”.
Tim Walz, weniger erfahren in solchen Debatten, leistet sich nur ganz am Anfang einige Verstolperer, als es um die von beiden Kandidaten umschiffte Frage ging, ob sie einen präventiven Militärschlag gegen den Iran befürworten würden. Schon nach wenige Minuten hatte sich der Gouverneur von Minnesota, der einen volksnahen, eingängigen Wortschatz bevorzugt, geschmeidig geredet.
Vernichtende Trump-Kritik
Walz platzierte seine in der Sache oft vernichtende Kritik an Trump, etwa beim Mauerbau an der Grenze zu Mexiko, dem Verhalten in der Corona-Pandemie, dem Sturm aufs Kapitol oder dem hohen Handelsdefizit mit China, hinter einer Fassade aus jovialer Verbindlichkeit, die nicht verletzend wirkte.
So konterte er Vance' Kritik an der Einwanderungs-Situation mit dem sachlich zutreffenden Hinweis, dass Trump die Republikaner im Kongress unter Druck gesetzt habe, ein parteiübergreifend unterschriftsreifes Gesetz zur Grenzsicherung im Frühjahr fallen zu lassen. „Die meisten von uns wollen dieses Problem lösen. Donald Trump hatte vier Jahre Zeit dafür, und er hat den Amerikanern versprochen, wie einfach es sein würde." Aber fast nichts sei passiert.
Nur am Ende, als es um Trumps Demokratie-Verständnis ging - sprich: seine bis heute bestehende Leugnung der Wahlniederlage von 2020 - wurde der frühere Football-Coach kurz rustikal. Als Vance sich weigerte, die Niederlage Trumps gegen Biden unmissverständlich einzuräumen, polterte Walz zurück: „Das ist eine vernichtende Nicht-Antwort.”
Der Gouverneur hatte einen seiner stärksten Momente, als Vance den Versuch unternahm, Trumps Niederlagen-Trauma aufzuwiegen mit der Behauptung, Kamala Harris betreibe „im industriellen Maßstab Zensur”, um missliebige Meinungen zu unterdrücken. Walz brauchte einen Moment, um sich zu fassen. Dann sagte er, dass Facebook-Beiträge keinen Aufstand auslösen. „Zu leugnen, dass das, was am 6. Januar geschah, das erste Mal, dass ein amerikanischer Präsident oder irgendjemand versucht hat, eine Wahl zu stürzen, ernst war, ist inakzeptabel“, sagte er. „Das muss aufhören. Es reißt unser Land auseinander.“
Walz nannte Trump „wankelmütig” und warnte vor dessen Wiederwahl. Kamala Harris biete dagegen eine Zukunft mit Optimismus und ohne Furcht an. Vance nahm für Trump in Anspruch, Amerika stabil geführt und zu Wohlstand gebracht zu haben.
In ersten Schnell-Analysen im US-Fernsehen wurde den Rivalen ein „Unentschieden ohne große Fehltritte” bescheinigt. Ob ihr Auftritt am Kopf-an-Kopf-Rennen von Trump und Harris substanziell etwas ändern wird, bezweifeln Experten. Die ersten aussagekräftigen Umfragen dazu werden gegen Wochenende erwartet.
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