Droht Ungarn wegen "Kinderschutzgesetz" Stimmverlust bei EU-Beschlüssen?
Ungarn muss sich wegen seines umstrittenen "Kinderschutzgesetzes", das sexuelle Minderheiten diskriminiert, vor dem EUGh verantworten. Das Urteil könnte weitreichende Folgen haben.
Die ungarischen Medien, denen eine gewisse Nähe zur nationalkonservativen Regierung nachgesagt wird, beschäftigte am Dienstag vor allem eine Frage: "Ist der Wiener Christkindlmarkt am Rathausplatz wirklich günstiger als der Budapester?“, fragte Daily News Hungary, nachdem eine andere Zeitung zu diesem Ergebnis gekommen war. Kein Wort zu einer viel schwerwiegenderen Frage, die in Brüssel verhandelt wurde: Verstößt Ungarn mit seinem umstrittenen "Kinderschutzgesetz" gegen geltende Menschenrechtsstandards?
Budapest musste sich am Dienstag in einer ersten Anhörung vor dem Europäischen Gerichtshof der von der Europäischen Kommission losgetretenen Klage stellen, sein "Kinderschutzgesetz" aus dem Jahr 2021 schränke die Rechte von Menschen aus der LGBTQIA+-Community ein. Häufig wird es mit ähnlichen "Anti-LGBTQIA+"-Gesetzen in Russland oder Georgien verglichen. Die Klage wird von 16 EU-Ländern unterstützt wird – unter anderem Österreich. Das sind mehr Länder als bei der früheren Klage gegen Rechtsstaatlichkeit, damals hatten sich zehn Länder der Kommission angeschlossen. EU- und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler erklärte auf KURIER-Nachfrage die "Streithilfe": "Es ist wichtig, dass ein unabhängiges Gericht, in diesem Fall ist der EuGH zuständig, überprüft, ob das ungarische Gesetz gegen unsere europäischen Grundsätze und Werte verstößt."
Gesetz rückt Homosexualität in Nähe von Pädophilie
Seit 2021 ist in Ungarn ein Gesetz in Kraft, das den Sexualunterricht in Schulen stark zensiert, Adoptionen für LGBTQIA+-Paare blockiert und Inhalte in Medien und Werbung zu Homo- und Transsexualität oder Geschlechtsumwandlungen einschränkt – mit der Begründung, Minderjährige schützen zu wollen. Eingebettet wurde das Gesetz in einen Rahmen, der strengere Strafen bei Pädophilie vorsah.
Das Gesetz wurde im In- und Ausland heftig kritisiert – nicht nur, weil es Werte wie Gleichheit, Meinungsfreiheit und das Recht auf Information untergrabe, sondern implizit alles abseits von Heterosexualität in die Nähe von Pädophilie rücke. Dazu wurden die Ungarn aufgerufen, "Gesetzesbrecher" zu melden. Auf der Website der Medienbehörde gibt es ein eigenes Formular für anonyme Meldungen. Der Rechercheplattform voxeurop zufolge gab es in den ersten zwei Jahren knapp 100 solcher Beschwerden, die laut Behörde jedoch nicht weiterverfolgt wurden.
Auch die Anwendung des Gesetzes steht in Kritik: Während es internationale Streamingdienste und soziale Plattformen ausschließt oder lediglich kritisieren kann, gelten die Bestimmungen vorrangig für in Ungarn ansässige Mediendienstleister. Das bekannteste Opfer des Gesetzes: die Buchkette Líra. Sie wurde 2023 zu einer Geldstrafe von 30.000 Euro verurteilt, weil sie den Jugendcomic "Heartstopper" ausgestellt haben, ein Roman über Homosexualität zwischen zwei Jugendlichen, während die Serie auf Netflix abrufbar war. Die Buchhandlung hat die Entscheidung vor Gericht angefochten und gewann – allerdings nur aufgrund eines Beistrichfehlers im Gesetzestext.
Ein anderes Beispiel: Die weltbekannteWorld Press Photo-Ausstellung war im Vorjahr dazu angehalten, unter 18-Jährigen den Besuch zu untersagen, weil eine philippinische Fotoserie die Lebensgemeinschaft älterer LGBTQIA+-Personen dokumentiere. Die Fotos zeigten einige Mitglieder in Frauenkleidern und mit Make-up. Die Maßnahme sorgte für heftige Kritik. Die Veranstalter der Fotoausstellung sprachen von einer erstmaligen von einer historischen "Zensur in Europa".
Die Europäische Kommission hatte die nationalkonservative Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán aufgefordert, das Gesetz zu ändern – was nicht geschah. Ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Artikel 2 des Vertrags über die Europäischen Union – "die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit sowie der Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte von Personen, die Minderheiten angehören" – wurde eingeleitet. Es folgte die Klage vor dem EUGh.
Der ungarischen Regierung könnten wohl Strafzahlungen in dreistelliger Millionenhöhe drohen. In der Vergangenheit hat Orbán, etwa bei der Nicht-Umsetzung des EU-Asylrechts, diese Strafen in Kauf genommen. Sie werden von den EU-Geldern, die Budapest aus Brüssel bekommt, abgezogen.
Viel folgenreicher wäre, wenn das Urteil dazu führt, dass das sogenannte Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn eingeleitet wird – die schwerwiegendste politische Sanktion der EU. Demnach würde dem Land bei EU-Beschlüssen das Stimmrecht entzogen werden. Bisher hat man davon abgesehen, aus Angst vor einer Gegenreaktion und um Ungarn nicht in eine Märtyrerrolle zu drängen. Beobachter halten diese Entscheidung aber nicht für unmöglich.
Abseits davon dürfte das Urteil auch für Bulgarien spannend sein: Das Land hat im Sommer nach dem Vorbild Ungarns ein ähnliches Gesetz verabschiedet. Das Urteil wird den kommenden drei bis vier Monaten erwartet.
Und was sagen die Medien, um die es beim Gesetz eigentlich geht? Dem kritischen Auge von Daily News Hungary zufolge ist Wienzwar bei der Kulinarik billiger, dafür der Glühwein teurer und der Markt am Rathaus "enger" als jener vor der St.-Stephans-Basilika in Budapest. Bebildert ist der Artikel mit einem Archivbild des Christkindlmarkts – am Stephansdom.
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