In Ungarn bekämpfte queere Märchen kommen in Wien auf die Bühne

In Ungarn bekämpfte queere Märchen kommen in Wien auf die Bühne
Ein Kinderbuch mit schwulen Prinzen ist Viktor Orbán ein Dorn im Auge. Mittlerweile darf es nur mehr unter strengen Auflagen verkauft werden. Nun wurde ein Theaterstück daraus.

Ein schwuler Prinz, ein Hase mit drei Ohren und eine Prinzessin, die keine „Mädchenkleidung“ tragen und schon gar nicht heiraten will.

Von Protagonisten wie diesen handelt das ungarische Kinderbuch „Märchenland für alle“ (Originaltitel: „Meseország mindenkié“). Darin werden 17 bekannte Märchen von jungen Autorinnen und Autoren neu erzählt. Das Buch soll Akzeptanz für marginalisierte Gruppen schaffen – etwa für Menschen mit Behinderung, Betroffene von häuslicher Gewalt, Angehörige unterschiedlicher Ethnien, Homosexuelle, Trans- und nichtbinäre Personen. Bei Ungarns Rechten sorgte das für Entrüstung.

Kurz nach dem Erscheinen des Buchs im Herbst 2020 bezeichnete es die Politikerin Dóra Dúró von der rechtsextremen Partei „Mi Hazánk“ („Unsere Heimat“) als „homosexuelle Propaganda“ und steckte es vor laufenden Kameras in einen Schredder. Ministerpräsident Viktor Orbán erklärte wenig später in einem Interview, dass Ungarn „tolerant und geduldig“ gegenüber Homosexualität sei, es jedoch eine „rote Linie“ gebe: „Lasst unsere Kinder in Ruhe!“ In regierungsnahen Medien wurden Homosexuelle mit Pädophilen verglichen, auch der Verlag, Herausgeber und Buchhandlungen waren Anfeindungen ausgesetzt.

Trotzdem ein Bestseller

Dem Erfolg des Buches tat das jedoch keinen Abbruch – im Gegenteil. Viele seien erst durch die Schredderaktion darauf aufmerksam geworden. „Märchenland für alle“ wurde in Ungarn zum Bestseller und mehr als 34.000 Mal verkauft (ursprünglich war nur eine kleine Auflage von 1.500 Stück bestellt). Dorottya Rédai, die Koordinatorin des Projekts, wurde vom Time-Magazin unter die 100 einflussreichsten Menschen 2021 gewählt. Mittlerweile ist das Buch in elf Sprachen erschienen, darunter auch auf Deutsch. Im Mai soll die italienische Ausgabe folgen, Ende April die deutsche Hörbuchfassung – gelesen u. a. von Annette Frier und Christoph Maria Herbst.

In Ungarn bekämpfte queere Märchen kommen in Wien auf die Bühne

Die ungarische Ausgabe von "Märchenland für alle". Auf Deutsch ist das Buch bei Gruner + Jahr erschienen (180 Seiten. 17,50 Euro. Empfohlen ab 
6 Jahren).

Und seit Kurzem ist „Märchenland für alle“ auch als Theaterstück in ungarischer Sprache zu sehen – und zwar in Wien. Ursprünglich sollte es in Ungarn auf die Bühne gebracht werden, erzählt Regisseur Tamás Pille. „Aufgrund der schrecklichen, aktuellen, politischen Situation kann man es aber nur im Ausland aufführen“, so Pille. Keines der Theater, bei denen er vorstellig wurde, habe das Risiko eingehen wollen.

Aufgeführt wird „Märchenland für alle“ nun vom ungarischen Wiener Theaterverein SVUNG im Pygmalion Theater im 8. Bezirk – teilweise mit Puppen, teilweise mit Schauspielern. Zwei Vorstellungen haben bereits stattgefunden, beide Male war das rund 50 Plätze zählende Theater ausverkauft, berichtet Balázs Pohl, der Leiter des Theatervereins.

Bei der Premiere seien hauptsächlich Erwachsene, auch Journalisten aus Budapest, im Publikum gesessen. Beim zweiten Termin seien dann aber schon mehrheitlich in Wien lebende Ungarn mit ihren Kindern gekommen, an die sich das Stück auch richtet. Dass man es in Ungarn nicht für Kindern aufführen kann, sei „ziemlich traurig“, so Pohl.

In Ungarn bekämpfte queere Märchen kommen in Wien auf die Bühne

Simon Feig in der Bühnenversion von "Märchenland für alle"

Starke Einschränkungen von LGBTIQ-Rechten

Unter Orbáns Regierung werden die Rechte der LGBTIQ-Community in Ungarn immer stärker eingeschränkt. So können Transpersonen ihren Geschlechtseintrag in Dokumenten und Ausweisen nicht mehr ändern, gleichgeschlechtliche Paare dürfen keine Kinder adoptieren.

2021 wurde das sogenannte „Kinderschutzgesetz“ beschlossen: Inhalte, in denen Homosexualität oder Transidentität „propagiert“ werden, dürfen unter 18-Jährigen nicht zugänglich gemacht werden. „Märchenland für alle“ darf daher nur mehr in Plastikfolie eingeschweißt und nicht im Umkreis von 200 Metern von Schulen oder Kirchen verkauft und auch nicht in der Auslage platziert werden. In der Budapester Filiale einer ungarischen Buchkette steht es etwa an unauffälliger Stelle bei den Elternbüchern. Herausgeber Boldizsár M. Nagy hat mittlerweile mit seinem Lebenspartner wegen anhaltender Drohungen das Land verlassen. (Mehr über die Aufregung rund um das Buch ist in diesem Video-Beitrag des regierungskritischen Online-Portals telex.hu mit englischen Untertiteln zu sehen.)

Positive Reaktionen aufs "Märchenland"

Die Rückmeldungen auf die Aufführung in Wien seien – bis auf ein paar negative Kommentare unter einem Artikel eines ungarischen Nachrichtenportals – durchwegs positiv gewesen, sagt Theatermacher Pohl. „Ich habe aber auch nicht damit gerechnet, dass hier in Wien daraus ein Skandal werden würde.“ Der nächste Termin von „Märchenland für alle“ ist Ende April. Eine deutsche Version sei vorerst nicht geplant.

Regisseur Pille will nun ganz nach Österreich übersiedeln, um frei arbeiten zu können. Theoretisch könne man in Ungarns Theatern zwar zeigen, was man möchte – „dann muss man sich aber anschauen, ob man noch staatliche Förderungen bekommt bzw. in welcher Höhe“. Seine Arbeit an „Märchenland für alle“ sei da in Ungarn kein Vorteil.