Jetzt fliehen auch die Russen vor Putin

"Ich würde gerne nach Europa, aber ich habe kein Visum. Und ich habe Angst, dass sie mich an der Grenze aufhalten und einziehen", schreibt Jurij.
Die Antworten kommen prompt. "Lösch alle Daten von deinem Handy, an der Grenze wird gefilzt", schreibt einer; der nächste: "Bis zur Grenze kannst Du ja ein großes Z aufs Auto malen."
Mehr als 100.000 Menschen helfen einander in der Telegram-Gruppe namens "Guide für den Umzug aus Russland", tauschen Ängste aus, geben Tipps. Es ist ein eher beschönigender Name für das Thema, denn alle hier wollen nur eines: So schnell wie möglich raus – raus aus Putins Russland. Die meist jungen Menschen dort treibt nicht nur die Angst vor Repressionen um – Anti-Kriegs-Proteste werden mit bis zu 15 Jahren Gefängnis geahndet, Abweichungen von der Zensur mit dem Rausschmiss von der Uni oder dem Job –, sondern auch die vor dem Krieg selbst. Seit Tagen machen Gerüchte die Runde, dass Putin das Kriegsrecht ausruft. Dann würden alle wehrfähigen Männer einberufen, selbst Ausländer. Und die Grenzen wären komplett dicht.
Keine Tickets mehr
"Wenn man in Russland ist, kann man sich nicht verstecken", sagt Kirill Martinow, Vize-Chefredakteur der Nowaja Gazeta, in einem Zoom-Gespräch des Forum für Journalismus zum KURIER. Die Zeitung ist eine der letzten noch nicht geschlossenen liberalen Medien; sie ist dem Kreml entgangen, weil sie schlicht nicht mehr über den Krieg in der Ukraine berichtet, dafür über Missstände in Russland (siehe Tweet unten - das jüngste Cover der Zeitung, das laut Titelzeile "gemäß dem Strafgesetzbuch" entstanden ist).
Viele seiner jungen Kollegen würden um ihre Zukunft, teils auch um ihr Leben fürchten, sagt er. Viele hätten sich darum schon ins Ausland abgesetzt. "Es gibt kein Gesetz mehr in Russland."
Meist ist das Ziel Zentralasien, dort versteht man Russisch, und Visum ist für Russen auch keines nötig. Flugtickets aus Moskau Richtung Georgien, dem beliebtesten Ausreiseziel neben Armenien und der Türkei, sind für die nächsten Wochen völlig ausgebucht. Nach Europa kommen zwar nur jene Russen, die bereits ein Schengen-Visum haben, dennoch sind die Züge zwischen St. Petersburg und Helsinki völlig ausgebucht. Und auch am Grenzübergang Buratschkij nach Lettland stehen kilometerlange Autoschlangen.
Neuer Eiserner Vorhang
Freilich: Nicht alle, die wollen, können auch weg. Derzeit sind es vor allem junge, gebildete Menschen, meist IT-Leute, Wissenschafter und Künstler, die den Weg ins Ausland suchen – die Mittelschicht und die Begüterten also. Die Mehrheit der Russen hat die etwa 800 Euro nicht, die ein Flugticket nach Zentralasien kostet, geschweige denn die finanziellen Ressourcen für ein Leben dort.
Dazu kommt, dass der Exodus der Gebildeten gerade jene Schicht ausdünnt, die sich traute, gegen Putin aufzubegehren. Umfragen suggerieren zwar, dass 60 Prozent der Russen hinter ihm stünden, wie viele aber in einem solchen Klima der Angst ehrlich antworten, sei dahingestellt. Das sorgt für eine Abwärtsspirale: Gehen noch weniger Menschen auf die Straße – zuletzt waren es in Moskau und Petersburg nur mehr einige Tausend –, lässt das Repressionen mehr Raum.
Das werde sich noch verschlimmern, sagt Martinow. "Sie werden einen digitalen Eisernen Vorhang um das Land legen." Er befürchtet eine Rückkehr in die 1980er, und zwar vor Glasnost und Perestrojka. "Ich bin in einem freien Land aufgewachsen, das Teil der westlichen Welt war", sagt er. "Jetzt haben sie mit diesem Krieg alles zerstört."

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