Ein Monster zum Vorbild: Wie viel Stalin steckt in Putin?
In Moskau erzählt man sich diese Anekdote über Wladimir Putin: Der Kremlherrscher, heißt es, habe unheimlich viele Bücher in seinem Büro, darunter auch die halbe Bibliothek Josef Stalins. Putin liebe es, die Anmerkungen des Diktators darin Besuchern zu zeigen: "Hahaha", ist da etwa zu lesen, wenn Stalin etwas lustig fand. Oder einfach: "Lehrer". Das steht in der Biografie Iwan des Schrecklichen.
Wer im Kreml sitzt, kann seinen Vorgängern nicht entfliehen, nicht den Zaren, nicht den Sowjetherrschern. Putin ist da keine Ausnahme. Seit er die Ukraine überfallen hat und Russland nach und nach in eine Diktatur verwandelt, treibt Experten wie Politiker eine bange Frage um: Wiederholt sich gerade der grausamste Teil der jüngeren russischen Geschichte? Ist Putin ein zweiter Stalin?
Dass diese Frage nur im Westen Furcht auslöst, ist bereits ein Teil der Antwort. Denn in Russland ist Stalin nicht der Schlächter, wie er im Westen wahrgenommen wird – und das hat er Putin zu verdanken. Sieht man bei uns das Monster mit seinen 20 Millionen Todesopfern, die Gulags und die hunderttausenden Exekutionen, gilt er in Russland als allzu menschlicher und höchst effektiver Führer.
Putin hat die Entstalinisierung abgeschafft: Nach Jahren der zaghaften Aufarbeitung blüht wieder der unkritische Personenkult, Stalin wird als geliebter "Führer" verkitscht. Er darf in Schulbüchern wieder der Staatsvater sein, der aus verarmten und ungebildeten Bauern industrielle Vorzeigemenschen formte, im Staats-TV ist er der Feldherr, der im "Großen Vaterländischen Krieg" den Westen heroisch bezwang. Die Erzählung lautet: Stalin machte Russland groß – und Putin gibt dem Land wieder diese Größe.
Wiederbelebter Kult
Stalins Rehabilitierung hat einen simplen Zweck. Sein Terror wird schlicht als gerechte Reaktion auf eine Gefahr dargestellt – er führte Kriege nur zur Verteidigung, weil er die Vernichtung der UdSSR fürchtete, und exekutierte Opponenten, weil sie ja den Staat destabilisierten. Ganz gleich argumentiert Putin heute. Und die – von ihm manipulierte – Historie soll das legitimieren.
Putin ließ dafür nicht nur NGOs, die Stalins Verbrechen aufarbeiten, gerichtlich verbieten. Er sucht die Nähe seines Vorbilds förmlich. Die Geschichte, dass sein Großvater Lenin und Stalin auf deren Datschas bekochen durfte, kennt jedes Kind. Wenn er sich im Staats-TV "Woschd", also "Führer" nennen lässt, ist das ebenso beabsichtigt wie seine Wortwahl. Er spricht neuerdings von "Volksverrätern", "Abschaum" und "Säuberungen", und das erinnert an Hitler genauso wie an Stalins Reden zu den Säuberungen des Großen Terrors in den 1930ern.
Das verfängt. Mittlerweile gibt es Websites, auf denen man Kriegskritiker denunzieren kann; in Schulen verpfeifen Kinder ihre aufmüpfigen Lehrer. Auch die Auslöschung der freien Medien wird von der Mehrheit hingenommen; wohl auch, weil es jahrzehntelang nicht anders war. Unter Stalin war es die Zensurbehörde Glawlit, die Berichte über Lebensmittelknappheit, Medikamentenengpässe oder Katastrophen verbieten ließ; heute lässt Putin Handys filzen und alle vor Gericht stellen, die Friedenstauben posten.
In seiner Ukrainepolitik hat sich Putin besonders viel von seinem Vorbild abgeschaut. Schon Stalin ließ verschweigen, dass er selbst dort in den 1930er eine Hungersnot provoziert hatte – weil er mit Getreideexporten die Schwerindustrie finanzierte, verhungerten Millionen. Der "Holodomor", bei dem zeitgleich die Bevölkerung gesäubert wurde – "ich würde alle Ukrainer deportieren lassen, gäbe es nicht so viele davon", sagte Stalin damals – findet sich auch heute nicht im russischen Geschichtsunterricht. Vielmehr hören Schüler die Erzählung, Stalin habe die Ukraine russifiziert, um dem "neuen Sowjetmenschen" den Weg zu bereiten. Dass er, obwohl selbst Georgier, die Russen als Herrenmenschen sah, passt auch heute ins Bild. Jetzt befreit Putin die Ukraine von "Nazis" und "Banditen"; dazu hat er extra Unterrichtsmaterial aufgelegt.
Lackierte Wirklichkeit
In der Sowjetzeit nannte man dieses Vorgehen halb scherzhaft "Lackierung der Wirklichkeit". Stalin beherrschte die mit Perfidie, er ließ Fotos von sich retuschieren, um neben Lenin größer und attraktiver zu wirken; Interviews mit dem Westen führte er nur mit "nützlichen Idioten", wie Lenin korrupte Propagandisten nannte. Stalin hatte dafür Pulitzer-Preisträger Walter Duranty von der New York Times, der das "Gerücht" über die Hungersnot in der Ukraine "übertrieben" nannte – und so den Westen ruhig hielt. Putin hält sich dafür Gerhard Schröder, Alice Weidel oder Karin Kneissl.
Auch in ihrer Paranoia gleichen sich die beiden. Stalin war am Ende seiner Herrschaft isoliert, ließ jahrelang nur gut zehn Handlanger – auch hauptsächlich Geheimdienstler – in seine Datscha nahe Moskau. Sogar, als er einen Schlaganfall erlitt, traute sich stundenlang niemand zu ihm, denn es gab ja keinen Befehl zum Eintreten. Putin, der in Corona-Angst in seinem Anwesen in Nowo-Ogarjewo oder in einem Bunker im Ural sitzt, gilt als ebenso völlig taub für andere Meinungen.
Das Vermächtnis
Im Unterschied zu Putin leitete Stalin bei allem imperialen Wahn aber die Vorsicht. Finnland attackierte er 1939 nur mit Rückendeckung Hitlers, seinen eisernen Griff um Osteuropa nach 1945 paktierte er mit Großbritannien und den USA. "So monströs er auch war", schreibt der Historiker Simon Sebag Montefiore, "Stalin wäre nie in Wolodimir Selenskijs Ukraine einmarschiert."
Man erzählt sich, Putin sei besessen davon, wie Historiker sein Vermächtnis einschätzen. Ob er sich in seiner Heimat in eine Reihe mit Peter dem Großen, Lenin und Stalin stellen darf, hängt deshalb weniger davon ab, ob er diesen Krieg tatsächlich gewinnt. Entscheidend ist, ob ihm sein Volk auch glaubt, dass er ihn gewonnen hat.
Denn wie schon Stalin sagte: "Gewinner werden nie vor Gericht gestellt."
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