Warum Putin seine Soldaten bewusst klein hielt

Warum Putin seine Soldaten bewusst klein hielt
Der Kreml ließ unter Soldaten Korruption, Sadismus und Folter zu, um einen Armeeputsch zu verunmöglichen. Das rächt sich nun in der Ukraine.

Artjom Pachotin hatte nur eine Zigarette auf der Barackentoilette rauchen wollen. Dass sie ihm dafür mit Rasiermessern das Wort „Chuj“, also „Schwanz“, in die Stirn ritzten, war nach den Monaten der Erniedrigung und der Schläge der Tropfen zu viel. Der 22-Jährige erschoss sich im April 2018 selbst.

Die Geschichte des Rekruten ist eine von vielen aus der russischen Armee. Sie ist auch Erklärung dafür, warum der Kreml in der Ukraine nicht den erwünschten Erfolge hat: Putins Armee ist nicht die gut geölte Kriegsmaschine, von der die russische Propaganda so gern erzählt. Für die meisten Wehrpflichtigen ist sie ein Ort, an dem man nicht sein will. Wer der Einberufung entgehen kann, versucht dies auch – denn korrupte Offiziere, mafiöse Figuren, die Gelder veruntreuen, sind mehr Regel als Ausnahme. Ebenso wie die „Dedowschtschina“, die Pachotin erlitt _ die sadistische Folter junger Rekruten durch Vorgesetzte als fehlgeleiteter Initiationsritus.

Wie kann das sein, in einem Land, das beinahe ein Drittel seines Budgets für die Rüstung ausgibt und das sich rühmt, eine der stärksten Armeen der Welt zu haben?

Die Antwort darauf ist so simpel wie ernüchternd: Die Unterdrückung hat Methode, und das schon seit Langem. Kamil Galeew, Konfliktforscher am Wilson Center in Washington, sieht dahinter einen „bewussten Plan“, um ein Erstarken der Armee als „Gegenelite“ zu verhindern. Putin habe akzeptiert, dass in der Armee nicht die Geeignetsten, sondern die Korruptesten an die Spitze kamen; dazu habe man bewusst Personen aus Minderheiten verpflichtet, die in Russland gern minderwertig behandelt werden. Putin habe die Armee so ganz absichtlich schwach gehalten – nur, um einen Militärputsch zu verhindern.

Benzin als „Währung“

Die Auswüchse dieser Politik kann Putin nun in der Ukraine sehen. Denn dass es den Soldaten dort an Treibstoff fehlt, liegt am seit Jahren bekannten Benzinhandel: Unter Militärs wird Treibstoff halb scherzhaft „zweite Währung“ genannt; unterbezahlte Militärs verkaufen ihn gern unter der Hand weiter. Ähnlich die Problematik mit den Essensrationen. Berichte von völlig demoralisierten Soldaten, die um Essen betteln, häufen sich. Ihre Essenspakete sollen zum Teil seit 2015 abgelaufen sein. Die Firma, die sich darum kümmert, gehört bezeichnenderweise einem der korruptesten Handlanger Putins: Jewgenij Prigoschin, genannt Putins Koch, ist Gründer der berüchtigten Wagner-Freischärler-Gruppen.

Nach außen hin lässt der Kreml die Armee natürlich völlig anders porträtieren. Seit etwa zehn Jahren verwendet man viel Geld darauf, die Neuorganisation der Streitkräfte voranzutreiben und dies auch zu verkaufen: Die „Dedowschtschina“ etwa gehöre schon lange der Vergangenheit an, trommelt die PR-Abteilung des Verteidigungsministerium, die allein mehrere hundert Mitarbeiter umfasst und die mit „Zwezda“ (Stern) sogar einen eigenen TV-Kanal unterhält.

13 Millionen als Kanonenfutter

Allein, viel mehr als Propaganda ist das nicht. Die Umtriebe innerhalb der Armee werden nur unter den Teppich gekehrt, etwa mit Schweigegeld für die Betroffenen und ihre Angehörigen.

In der Bevölkerung hat die Armee darum das „niedrigsten Ansehen“ aller Sicherheitsorgane, so Galeew. Sie lebe nur vom Mythos, etwa dem Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“. Dass in diesem Krieg gegen Nazi-Deutschland 13 Millionen Rotarmisten starben, gehört aber auch zum Nimbus der Armee – Soldaten waren schon damals nicht mehr als Kanonenfutter.

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