Ungeklärt
Obwohl alle Indizien auf eine Vergiftung durch Dioxin hindeuteten, ist der Fall Juschtschenko bis heute nicht wirklich geklärt worden. Klar scheint nur, die Spuren führen, wie so oft in solchen Fällen, nach Moskau und zum KGB. Der Einsatz von Gift gegen unliebsame Persönlichkeiten hat dort Tradition. Wobei man sich über die Jahrzehnte einer Vielzahl von Giften bedient hat und die Agenten dabei immer wieder wild experimentierten, etwa mit radioaktiven Materialien. Die Spuren zu den wahren Hintermännern wurden dabei immer gekonnt verwischt. Auch der aktuelle Fall, die mögliche Vergiftung des Oligarchen Roman Abramovitsch, bleibt vorerst mysteriös. Der russische Milliardär hat laut einem Bericht des „Wall Street Journals“ einen Vermittlungsversuch zwischen Russland und der Ukraine gestartet und ist dabei offenbar vergiftet worden. Dem Bericht zufolge litten sowohl Abramowitsch als auch zwei der beteiligten ukrainischen Unterhändler nach der Begegnung in Kiew Anfang März an Vergiftungssymptomen. Das „Wall Street Journal“ führt mehrere Quellen für die Ereignisse an. Eine objektive Überprüfung dieser Behauptungen gibt es vorerst nicht.
Putins Helfershelfer
Eine sehr deutliche Spur in Richtung Kreml lieferte vor einigen Jahren der Fall Skripal. Am 4. März 2018 wurden ein Mann und eine Frau bewusstlos auf einer Parkbank gefunden. Schnell stellte sich heraus, dass es sich um den russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Julia handelte. Fast genauso schnell wurde klar, dass sie vergiftet worden waren, und zwar mit dem Nervengift Nowitschok. Die Spur führte in Skripals Heimatland Russland, wo er durch die Weitergabe von Geheimnissen in Ungnade gefallen war. Am 12. März erklärte die britische Premierministerin Theresa May im Unterhaus, "höchstwahrscheinlich" stecke Russland hinter dem Anschlag. Bald darauf enthüllten internationale Medien die wahren Identitäten der beiden Attentäter: Sie waren Offiziere des Militärgeheimdienstes GRU, einer von ihnen sogar von Putin persönlich als "Held Russlands" ausgezeichnet. Alexander Mischkin und Anatoli Tschepiga waren unter Decknamen nach Großbritannien eingereist, als Touristen, wie sie bei Auftritten in russischen Medien behaupteten. Der Kreml wies die Anschuldigungen ohnehin zurück.
Nervengift
Eindeutig belegt ist bei dem Fall nur die eingesetzte Substanz: Es handelt sich um das Nervengift Nowitschok. Und weil sich das im Fall Skripal offensichtlich bewährt hatte, tauchte im August 2020 bei einem weiteren Giftanschlag auf einen Widersacher des Kreml auf: Alexej Nawalny. Der Regimekritiker und Aufdecker zahlreicher Korruptionsskandale klagte während eines Flugs nach Moskau plötzlich über Übelkeit und verlor das Bewusstsein. Nach zweitägiger Behandlung in Sibirien schaffte es seine Familie, ihn nach Deutschland, in die Berliner Klinik Charite verlegen zu lassen. Dort wurde eindeutig diagnostiziert, was die russischen Ärzte offensichtlich zu verschleiern versucht hatten: Vergiftung mit Nowitschok.
Radioaktive Substanzen
Die Flucht ins Ausland rettete Nawalny, oder Juschtschenko offensichtlich im letzten Moment vor einer tödlichen Dosis. Den Ex-Agenten Skripal und seine Tochter erreichte der lange Arm des russischen Geheimdienstes auch in Großbritannien. Es war also ein glücklicher Zufall, oder ein Fehler der Auftragsmörder, der den beiden das Leben rettete. Andere ehemalige Agenten, die die Seiten gewechselt hatten, hatten nicht so viel Glück. Der ehemalige KGB-Agent Viktor Litwinenko, der abgesprungen war und sich im Exil in London sicher glaubte, starb vor den Augen der Weltöffentlichkeit einen qualvollen Tod.
Es war eine rätselhafte Krankheit, wegen der zum Kritiker Putins mutierte Spion im November 2006 in eine Londoner Klinik kam. Tagelang versuchten die Ärzte herauszufinden, woran er eigentlich litt. Er selbst hatte keinen Zweifel: Man hatte ihn vergiftet. "Die Bastarde haben mich gekriegt", sagt er in einem letzten Interview. Der Kreml habe ihn zum Schweigen gebracht. "Ich will überleben, nur um es ihnen zu zeigen." Das aber sollte ihm nicht gelingen: Litwinenko starb kurz nachdem die Ärzte ihre endgültige Diagnose abgeliefert hatten: Vergiftung mit der radioaktiven Substanz Polonium-210.
Von Lenin gegründet
Der Giftanschlag hat ihn Moskau und in den Reihen seiner Geheimdienste Tradition. Schon lange vor Putin, schafften sich die Machthaber der UdSSR schon unliebsame Gegner und Kritiker vom Hals - und das mit Methoden, die oft so ungewöhnlich waren, dass sich in die Spionage-Literatur eingehen sollen: Der Gift-Regenschirm etwa, mit dem der bulgarische Regimekritiker Georgi Markov 1978 auf der Londoner Waterloo-Bridge gestochen wurde. Er starb vier Tage später. Ein Agent des bulgarischen Geheimdienstes - ausgebildet und angeleitet vom KGB - hatte ihm mit Hilfe des Regenschirms das Gift Rizin injiziert. Spätere Regenschirm-Anschläge scheiterten allerdings. Der erste Sowjetherrscher, der Gift für ein geeignetes Werkzeug für den politischen Kampf hielt, war niemand anderer als Lenin selbst. Kaum hatte sich die Sowjetherrschaft in Moskau etabliert, wurde im Auftrag Lenins in Moskau das "Wissenschaftliche Forschungsinstitut Nr.2" gegründet. Was dort geforscht wurde, wurde beim KGB entschieden, und es blieb selbstverständlich geheim. Unter Stalin aber, so sollten wissenschaftliche Mitarbeiter später enthüllen, seien dort alle Arten von Giften ausprobiert worden, vorzugsweise an politischen Gefangenen. Als der letzte reformorientierte Sowjetherrscher Michail Gorbatschow endlich vom KGB Aufklärung darüber verlangte, was denn in diesem Labor so geforscht werde, verweigerten ihm die Geheimdienstler einen Besuch.
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