Kann die russische Versorgung durch HIMARS abgeschnitten werden?
Nach drei Monaten konnten ukrainische Verbände in die erste russische Hauptverteidigungslinie einbrechen. Dennoch liegen noch enorme Hindernisse vor dem ersten großen Ziel der Gegenoffensive.
Nach drei Monaten heftiger Kämpfe und zahlreicher Verluste auf beiden Seiten ist es den ukrainischen Streitkräften gelungen, an der Südfront in die erste russische Hauptverteidigungslinie einzubrechen.
Minenfelder, Panzersperren, ständiger Beschuss durch russische Artillerie – kilometertief mussten sich die ukrainischen Soldaten meist zu Fuß und in der Nacht vorkämpfen, um die sogenannte Surowikin-Linie (benannt nach dem mittlerweile geschassten, russischen General) zu erreichen.
Und der Beschuss wird nicht aufhören: Auf Videos in Sozialen Netzwerken ist zu sehen, wie die russische Artillerie ukrainische Soldaten in russischen Stellungssystemen der ersten Hauptverteidigungslinie beschießt. Nun wird es für die ukrainischen Streitkräfte notwendig sein, das gewonnene Gelände zu halten und zu sichern, damit die nächste Verteidigungslinie angegriffen werden kann. Sollten sie diese durchbrechen können, läge noch eine zwischen den Kämpfern und einer Verbindungsstraße zur stark befestigten Stadt Tokmak (siehe Grafik).
In diesem Artikel lesen Sie unter anderem:
Warum es für die Ukraine wichtig wäre, bis vor Tokmak zu kommen
Wie die Russen HIMARS-Raketen abwehren können
„Fuß in der Tür“
Militäranalyst Oberst Markus Reisner vergleicht die derzeitigen Erfolge der Ukraine mit einem „Fuß in der Tür“. Für den Militärexperten Franz-Stefan Gady, sei es immer klar gewesen, dass die russischen Verteidigungslinien früher oder später durchbrochen werden würden.
Sie seien dazu konzipiert, die Ukraine abzunützen, nicht abzuwehren. „In einem Abnützungskampf, wie er jetzt stattfindet, ist langfristig das genaue Verhältnis der Verluste beider Seiten wichtiger als Geländegewinne“, schrieb Gady. Hier sei die Datenlage für eine Schlussfolgerung allerdings zu unvollständig, er gehe von „signifikanten Verlusten“ auf beiden Seiten aus.
Hohe Verluste
Der ukrainische General Oleksandr Tarnavskiy äußerte sich optimistisch, dass Russland 60 Prozent seiner Ressourcen in den Bau der ersten Verteidigungslinie gesteckt habe – und er optimistisch sei, dass der ukrainische Vormarsch nun rascher vonstattengehen könne.
Gleichzeitig räumte er – wie auch etliche andere ukrainische Soldaten – ein, dass die menschlichen Verluste sehr hoch gewesen seien: „Wir verlieren die Stärksten und Besten, je näher wir zum Sieg kommen“, sagte er dem britischen Guardian. „Wir müssen uns nun auf gewisse Bereiche konzentrieren und den Job zu Ende bringen. Egal wie hart es ist“, setzte er nach. Bei etwa 20.000 ukrainischen Soldaten sollen laut dem ukrainischen Fachkrankenhaus für die Behandlung von Kriegsopfern seit Kriegsbeginn Amputationen notwendig gewesen sein.
Doch auch die russischen Verbände haben schwere Verluste erlitten – nicht umsonst werden derzeit frische Kräfte in den Raum Tokmak verlegt, um einen möglichen größeren Durchbruch der Ukrainer zu verhindern.
Ziel Tokmak
Wohl auch aus diesem Grund griffen ukrainische Einheiten am Dienstag an einem weiteren Punkt, einige Kilometer weiter östlich, an. Das Ziel Kiews dürfte sein, russische Einheiten zu binden. Sollte es den ukrainischen Streitkräften bis zum Anbruch der Schlammzeit in wenigen Wochen gelingen, bis nach Tokmak vorzustoßen, könnten sie alle russischen Nachschublinien bis zum Asowschen Meer mit HIMARS-Artillerie bombardieren. Moskau wäre damit vor ein ernsthaftes Problem gestellt – wenn die Lieferungen von HIMARS-Munition oder ähnlichen Systemen mit einer Reichweite von 80 Kilometern weitergehen.
Allerdings dürfte Russland bereits einige Abwehrmechanismen gegen das gefürchtete System entwickelt haben: In den vergangenen Monaten war es öfters geschehen, dass elektronische Störsender das GPS-gesteuerte Zielsystem der HIMARS-Raketen ausschalteten. Dennoch stünde die russische Logistik vor hohen Herausforderungen. Wie schnell sich eine Lage aufgrund mangelnder Logistik ändern kann, zeigte vergangenes Jahr der russische Abzug aus der Stadt Cherson. Aufgrund der Reichweite der ukrainischen Artillerie war es auf absehbare Zeit nicht mehr möglich, die dort stationierten russischen Soldaten ausreichend zu versorgen.
Sicherung
Und dann kommt es noch darauf an, die Artillerie, beziehungsweise die Stellungen, ausreichend zu schützen – dafür würde eine mächtige Flugabwehr vonnöten sein. Ein Grund dafür: Die sogenannten russischen FPV-Drohnen, die mit einer Geschwindigkeit von bis zu 140 Kilometern pro Stunde durch die Luft rasen. Ihre Frontkameras übertragen ihre Sicht direkt auf die speziellen Brillen ihrer Piloten, die sie direkt steuern – als ob sie selbst das Fluggerät wären.
„Insektenschwärme“
An ihnen sind Sprengladungen angebracht, die beim Aufschlag im Ziel detonieren. Und es werden immer mehr an der Front. Beobachter berichten von regelrechten „Insektenschwärmen“. Und die FPV-Drohnen sind nur eine von vielen Bedrohungen für die HIMARS-Artillerie, die derzeit vor allem von ihrer hohen Mobilität profitiert. Schließlich steht HIMARS auch für "High Mobility Artillery Rocket System".
Zumeist fahren HIMARS zu einem bestimmten Punkt, feuern – und fahren wieder weg, ehe die russische Artillerie zurückfeuern kann. Das ist ihr Trumpf. Um dies an der Front vor Tokmak gewährleisten zu können, müssen die ukrainischen Streitkräfte ihre Geländegewinne auch auf die Breite hin ausweiten. Schon allein, um nicht eingekesselt zu werden. Gleichzeitig werden die Angriffe gegen die nächsten russischen Verteidigungslinien mit aller Härte weitergehen.
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