Türkei: Regierung will Verfassungsgericht beschneiden

Abgeordnete im türkischen Parlament mit einem Bild von Oppositionspolitiker Can Atalay.
Die im Oktober des Vorjahres vom Verfassungsgericht angeordnete Freilassung des inhaftierten Oppositionspolitikers Can Atalay führte zu einer Justizkrise in der Türkei.

Die türkische Regierung will Insidern zufolge den Einfluss des Verfassungsgerichtes beschneiden

Hintergrund ist nach Angaben eines ranghohen Regierungsvertreters und zweier Abgeordneter der Regierungspartei AKP die vom Verfassungsgericht angeordnete Freilassung des inhaftierten Oppositionspolitikers Can Atalay im Oktober. 

Atalay war 2022 zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil er nach Auffassung eines untergeordneten Gerichtes 2013 versucht hatte, die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan zu stürzen, indem er landesweite Proteste organisierte.

Verfassungsgericht entschied für Atalays Freilassung

Der 46-jährige Anwalt bestreitet die Vorwürfe. Er legte Berufung beim Verfassungsgericht ein, indem er einen sogenannten Einzelantrag nutzte – einen durch eine Verfassungsänderung von 2010 geschaffenen Mechanismus, der es Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, sich direkt an das oberste Gericht wegen Rechtsfragen zu wenden. Das Verfassungsgericht entschied für Atalays Freilassung.

Nach Angaben des Regierungsvertreters und der beiden AKP-Abgeordneten sind Erdogan und seine Verbündeten besorgt über den Einfluss des Gerichts, insbesondere durch die weit verbreitete Verwendung von Einzelanträgen. Das Gericht habe durch diese Urteile „einen einzigartigen Machtbereich“ geschaffen, sagte der Regierungsvertreter, der wie die beiden Abgeordneten anonym bleiben wollte. Erdogans Büro und das Justizministerium antworteten nicht auf die Bitte um Stellungnahmen.

Offiziellen Daten zufolge hat das Gericht seit September 2012 mehr als 500.000 Einzelanträge wegen Grundrechtsverletzungen durch Behörden bearbeitet und in mehr als 484.000 Fällen ein Urteil gefällt. 

Kommt ein türkischer Menschenrechtsgerichtshof?

Die Regierung erwäge mehrere Optionen, sagte der Regierungsvertreter. Dazu gehöre die Einrichtung eines „türkischen Menschenrechtsgerichtshofs“, der einzelne Anträge gesondert behandeln würde. Das Verfassungsgericht und das System für Einzelanträge würden in irgendeiner Form bestehen bleiben, sagte er. „Aber es sind Vorschriften nötig.“ Einer der beiden AKP-Abgeordneten sagte, dass das Verfassungsgericht eine klar definierte Zuständigkeit haben sollte, um sich nicht mit dem Kassationsgericht zu überschneiden und dessen Zuständigkeit zu überschreiten. 

Denn die Freilassung des Oppositionsabgeordneten hatte im November eine Justizkrise ausgelöst. Das oberste Berufungsgericht der Türkei – das Kassationsgericht – erklärte, es werde die Entscheidung des Verfassungsgerichtes nicht anerkennen und eine Strafanzeige gegen die Richter einreichen, die sie gefällt hatten. Das Berufungsgericht warf dem Verfassungsgericht vor, seine Zuständigkeit zu überschreiten, indem es als „Super-Berufungsinstanz“ agiere.Im Dezember entschied das Verfassungsgericht zum zweiten Mal, dass Atalay freigelassen werden solle. 

Kurz darauf verweigerte ein Istanbuler Strafgericht zum zweiten Mal seine Freilassung und übergab den Fall erneut an das Kassationsgericht zur Neubewertung.Im Januar entzog das von Erdogans Anhängern dominierte Parlament Atalay seinen Abgeordnetenstatus. Atalay sitzt weiterhin im Gefängnis.

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