Die ganze Welt blickt auf Taiwan: Wahl entscheidet über Verhältnis zu China
Die Präsidentschaftswahl am Samstag ist in vielerlei Hinsicht einzigartig: China droht wie nie zuvor, gleichzeitig stehen erstmals drei Kandidaten zur Wahl. Der ultimative Überblick.
Zu Beginn dieser Woche verfiel Thomas urplötzlich in Angst. Um 15:04 Uhr war auf seinem Handy eine Notfall-Benachrichtigung aufgetaucht: "Warnung der Präsidentin". Solche erhält man auf der Insel Taiwan, die regelmäßig von Erdbeben durchgerüttelt oder von chinesischen Militärmanövern bedroht wird, zwar gelegentlich - aber nie mit einer solchen Formulierung: "Luftangriff-Alarm: Rakete überfliegt den taiwanischen Luftraum. Seien Sie vorsichtig".
Thomas saß an seinem Schreibtisch in einem Büro in einem Hochhaus der Hauptstadt Taipeh, als ihn die Warnung erreichte. Panisch sprang er auf, suchte den Blickkontakt zu seinen beiden einheimischen Kollegen. Die blickten überrascht zurück, schienen aber ansonsten entspannt. Szenen wie diese spielten sich am Dienstag überall auf der Insel zwischen Einheimischen und Ausländern ab, die kein Chinesisch sprechen.
Wenig später klärte eine geknickte Regierungssprecherin auf einer Pressekonferenz auf, was Thomas und seine Kollegen zuvor untereinander aufgelöst hatten: Die ursprünglich chinesische "Warnung der Präsidentin" war fehlerhaft auf Englisch übersetzt worden. Es habe zwar eine Luftraumverletzung stattgefunden, jedoch durch einen chinesischen Satelliten, nicht durch eine Rakete. Gefahr habe somit nie bestanden, ein Mitarbeiter habe lediglich die falsche Warnung versendet.
Ein kurzer Schreckmoment, der trotzdem zeigt, wie angespannt die Stimmung auf der Insel unmittelbar vor der Präsidentschaftswahl am Samstag ist. Seit den ersten demokratischen Wahlen 1996 erhielt keine Präsidentschaftswahl auf Taiwan so viel internationale Aufmerksamkeit wie diese. Keine Wahl auf der Insel war zudem jemals so unvorhersehbar: Erstmals stehen gleich drei Kandidaten zur Auswahl, zudem versucht der große Nachbar China in einer nie dagewesenen Art und Weise in den Wahlkampf einzugreifen. Auch mit Satelliten.
In diesem Artikel lesen Sie:
Warum die Wahl am Samstag so eine große Bedeutung hat - auch für Europa
Welche drei Kandidaten zur Wahl stehen und was sie ausmacht
Welche Szenarien sich nach der Wahl für Taiwan und die Welt ergeben könnten
Die Rahmenbedingungen: Drei Männer kämpfen um den richtigen Umgang mit China
Taiwans Präsidentin Tsai Ing-Wen darf nach zwei vierjährigen Amtszeiten nicht mehr für kandidieren. Unter ihrer Führung erlebte Taiwan immer heftigere Drohgebärden aus der benachbarten Volksrepublik China. Die Regierung in Peking beansprucht Taiwan für sich und macht die achtjährige Regentschaft Tsais für die verschlechterten Beziehungen verantwortlich.
Mit ihrer Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) an der Macht, so heißt es aus Peking, sei eine friedliche Wiedervereinigung mit der Insel nicht vorstellbar - und man könne in Zukunft Gewalt nicht mehr ausschließen. Um dem Nachdruck zu verleihen, vergeht aktuell kein Tag ohne Luftraumverletzungen durch chinesische Kampfjets, die - im Gegensatz zu Satelliten oder (mutmaßlichen) Raketen - nicht immer eine öffentliche Warnung nach sich ziehen.
Unter diesen Voraussetzungen gehen erstmals gleich drei Kandidaten in das Rennen um Tsais Nachfolge. Bei der Wahl gibt es nur einen einzigen Durchgang, wer die meisten Stimmen erhält, wird Präsident - weder eine Mehrheit, noch eine Stichwahl sind notwendig. Gleichzeitig wählen die Taiwaner die Zusammensetzung ihres Parlaments - des sogenannten Legislativ-Yuans.
Ein Überblick über die Kandidaten und ihre politischen Standpunkte:
Regierungskandidat William Lai (DPP): Weiter wie bisher
Geht es nach Tsai, dann soll ihr momentaner Stellvertreter auch ihr Nachfolger werden: Vizepräsident Lai Ching-te, genannt William Lai, übernahm bereits im Vorjahr die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) als Vorsitzender und geht als ihr Spitzenkandidat ins Rennen. Lai verspricht, den Kurs der aktuellen Regierung weiterzuführen: Taiwan international als eigenständigen, prowestlichen Akteur zu positionieren und Abhängigkeiten von China zu verringern, um weniger von den Launen Pekings abhängig zu sein.
Das Ziel ist klar: Wer mit Tsais Präsidentschaft zufrieden war, soll Lai wählen. Und das waren bei der letzten Präsidentschaftswahl 2020 - getrieben von der brutalen Art und Weise, mit der China die Demokratieproteste in Hongkong niederschlug - immerhin fast 60 Prozent.
Mit einem derart berauschenden Wahlsieg Lais ist am Samstag nicht zu rechnen. Der amtierende Vizepräsident trägt in diesem Wahlkampf einen schweren Rucksack mit sich herum: Er bezeichnete sich erst 2017 selbst als "pragmatischen Arbeiter für die Unabhängigkeit Taiwans" - Aussagen, die jetzt nicht nur von den Oppositionskandidaten, sondern auch von der chinesischen Regierung gegen ihn verwendet werden.
Zudem hat sich Lai für seine Kampagne eine durchaus umstrittene Frau an seine Seite geholt. Die ehemalige Repräsentantin Taiwans in den USA, Hsiao Bi-khim, läuft an seiner Seite als Vizepräsidentschaftskandidatin auf. Die 52-Jährige ist nicht nur aufgrund ihres Werdegangs bestens in den USA vernetzt: Ihre Mutter stammt aus New Jersey. In China gilt sie deshalb als Feindbild, wird in den Staatsmedien als "Amerikanerin" bezeichnet.
Die chinesische Führung machte bereits klar: Ein Wahlsieg des Duos Lai/Hsiao wäre für sie nicht tragbar. Peking erklärte die Wahl zu einer zwischen "Krieg und Frieden" - jene Einwohner Taiwans, die keine Eskalation wünschen, müssten sich also für einen der beiden Oppositionskandidaten entscheiden.
Oppositionskandidat Hou Yu-ih (KMT): Kandidat der Ängstlichen
Die nationalistisch-konservative Kuomintang-Partei (KMT) ist älter als der de-facto-Inselstaat Taiwan. Sie wurde 1912 auf dem chinesischen Festland formell gegründet, ihre Anhänger kämpften unter der Führung General Chiang Kai-sheks erbittert gegen Mao Zedongs Kommunisten, ehe sie 1949 auf die Insel Taiwan flohen.
Heute ist die Kuomintang die mächtigste Oppositionspartei auf der Insel. Doch sie kämpft mit einem Problem: Ihrer konservativen Haltung, wonach die Bevölkerung Taiwans eigentlich chinesisch, aber zum demokratischen Exil auf der Insel verdammt sei, stimmen immer weniger Wähler zu. Sie sterben schlichtweg aus - die Kernwählerschaft der KMT besteht aus Älteren vom Land, die irgendwann in Zukunft gerne einmal mit China wiedervereint wären, sofern das ohne Kommunisten an der Macht möglich wäre.
Um diesem Ruf entgegenzuwirken, präsentierten die Altvorderen der KMT für diese Wahl einen untypischen Kandidaten: Den 66-jährigen, ehemaligen Polizisten Hou You-ih. Anders als die allermeisten KMT-Funktionäre entstammt Hou einer Familie, die schon vor der Ankunft der Chinesen auf Taiwan lebte. Der charismatische Bürgermeister von Neu-Taipeh (Vororte der Hauptstadt) soll neue Wählergruppen ansprechen.
In der Frage nach dem richtigen Umgang mit der großen Bedrohung vom Festland tritt Hou für eine deutlich freundlichere Haltung gegenüber China ein. Er wolle gleichzeitig auf Abschreckung, Dialog und Deeskalation setzen sowie den Handel mit dem Reich der Mitte vertiefen, um Taiwans Sicherheit zu garantieren. Solange Peking eine friedliche Wiedervereinigung mit Taiwan für realistisch hält, so Hous Argumentation, habe man keinen Angriff zu befürchten.
Setze man den bisherigen Kurs der US-Nähe fort, sei ein Krieg mit China dagegen "unvermeidlich", so Hou, der sogar mehrfach Wort für Wort die chinesische Formulierung übernahm: Die Wahl sei eine zwischen "Krieg" - der DPP - und "Frieden" - ihm selbst.
Oppositionskandidat Ko Wen-je (TPP): Der pragmatische Populist
Der alte Streit zwischen der DPP und der Kuomintang bestimmt die taiwanische Innenpolitik seit Jahrzehnten. Dass dieser Wahlkampf so unvorhersehbar ist, liegt deshalb vor allem an einem Mann: Ko Wen-je. Der studierte Hirnchirurg begann seine politische Karriere als Quereinsteiger, regierte bis Ende 2022 acht Jahre lang als parteiunabhängiger Bürgermeister die Hauptstadt Taipeh.
Inzwischen hat Ko seine eigene Partei gegründet, die Taiwanische Volkspartei (TPP), für die er auch als Präsidentschaftskandidat ins Rennen geht. Der Populist machte lange mit Kritik an beiden etablierten Parteien auf sich aufmerksam, die sich aus seiner Sicht zu oft mit ideologischen Grabenkämpfen und zu selten mit Realpolitik beschäftigen. Spätestens, seit die Tsai-Regierung im Jänner 2023 die Wehrpflicht wegen der Bedrohung durch China auf ein Jahr ausweiten ließ, liefen viele junge DPP-Wähler zu Kos TPP über.
Ko ist jedoch kein Mann klarer Haltungen. Noch zu Beginn des Wahlkampfes hatte er erklärt, die Dinge, die er im Leben am meisten hasse, seien "Kakerlaken... und die KMT". Weil der 66-Jährige jedoch ebenfalls für eine weniger konfrontative Haltung gegenüber China eintritt, waren die nächsten Wochen von der Frage geprägt, ob er nicht gemeinsam mit Hou You-ih für die Kuomintang kandidieren würde.
Ko und Hou trafen sich mehrmals für Verhandlungen, auf Nachfrage erklärte Ko, er habe sich dazu bereit erklärt, weil er "die DPP noch mehr hasse". Schließlich scheiterte die Zusammenarbeit aber an der Frage, wer als Präsidentschafts- und wer als Vizepräsidentschaftskandidat ins Rennen geht. Seither erklärt der TPP-Chef: "Die DPP ist zu sehr auf Konfrontationskurs mit China, während die KMT immer nur über Zusammenarbeit mit nachdenkt. Wir müssen bereit sein, mit Peking zu kooperieren, aber auch mit ihnen in die Konfrontation gehen, wenn es nötig ist."
Chancen der jeweiligen Kandidaten - und mögliche Szenarien nach der Wahl
Vor einer Wahl dürfen in Taiwan zehn Tage lang keine politischen Umfragen mehr veröffentlicht werden, damit die Wähler unbeeinflusst zur Urne schreiten. In den meisten jüngsten Befragungen liegt jedoch William Lai mit rund 36 Prozent an der Spitze, wenn auch teilweise innerhalb der Schwankungsbreite. Dahinter folgt fast immer Hou You-ih mit knapp 30 Prozent, Ko Wen-je bildet mit durchschnittlich 24 Prozent das Schlusslicht.
Der wahrscheinlichste Wahlausgang ist demnach ein Wahlsieg Lais, der ohnehin als Favorit auf das Präsidentenamt gilt. Kurzfristig wäre wahrscheinlich eine Reaktion Pekings zu erwarten, sollte Lai gewinnen - Experten rechnen mit militärischen Drohgebärden, etwa einer vorübergehenden Abschottung der Insel.
Allerdings ist durchaus wahrscheinlich, dass die Kuomintang und Kos TPP gemeinsam auf mehr als die Hälfte der Sitze im taiwanischen Parlament kommen. Ein Präsident Lai wäre in diesem Fall zwar in Fragen der Verteidigung und Außenpolitik weiter handlungsfähig, vor allem beim Budget aber auf die Opposition angewiesen - eine völlig neue Situation, die es so in Taiwan noch nicht gab.
Doch einen Wahlkampf wie diesen hat Taiwan noch nicht erlebt. Angesichts der zunehmenden chinesischen Drohgebärden, auch in dieser Woche, bezweifeln manche Beobachter hinter hervor gehaltener Hand die Zuverlässigkeit der Umfragen. Ein Wahlsieg Hous gilt ohnehin nicht als ausgeschlossen, doch auch ein Überraschungssieg Kos wäre theoretisch möglich, wenn auch unwahrscheinlich. Beide könnten zumindest ihren gewünschten Richtungswechsel beim Umgang mit China leichter im Parlament durchbringen.
Sollte einer der beiden Oppositionskandidaten Taiwans künftiger Präsident werden, so könnte eine wirtschaftliche Annäherung an China die Folge sein. Das dürfte den Konflikt zwar kurzfristig beruhigen, doch spätestens im Herbst, wenn in den USA ein neuer Präsident gewählt wird, dürfte wieder Feuer in die Dreiecksbeziehung Peking-Taipei-Washington kommen.
In den USA herrscht jedenfalls bei Republikanern wie Demokraten Einigkeit darüber, dass man mit der neuen taiwanischen Regierung zusammenarbeiten muss - egal, wer ihr vorsitzt.
(kurier.at, jar)
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Aktualisiert am 12.01.2024, 16:11
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