Alles beginnt zu wackeln. Das Wasser in der Duschwanne schwappt hin und her, gibt den Takt vor. Rhythmisch klopfen die Schuhe gegen die Tür des Holzkastens, begleitet vom Klirren der Zahnputzbecher; als würde ein Schlagzeuger sich an der Einrichtung des Hotelzimmers austoben. Dann, nach etwa 30 Sekunden, ist der Spuk vorbei.
Wer noch nie ein Erdbeben erlebt hat, macht in Taipeh schnell Bekanntschaft mit neuen Urängsten. Ein Blick aus dem Fenster verrät jedoch, dass nie ein Grund zur Sorge besteht. Der Morgenverkehr, dominiert von Schwärmen an Motorrollern, fließt ungebremst weiter. Sirenen sind keine zu hören.
Auch das Gespräch mit Einheimischen beruhigt: "Sie haben Glück, dass Sie das erleben konnten", hört man da. "Das passiert hier nur alle paar Wochen."
Die Menschen auf Taiwan sind es gewohnt, sich mit Gefahren abzufinden, die sie nicht beeinflussen können. Auch auf dem Nachtmarkt Ningxia im Herzen Taipehs wird das deutlich. Bei Neonlicht und lauter Musik wimmeln hier Menschenmassen zwischen den Essensständen.
Daneben begleiten Sicherheitsleute einen kleinen Mann mit weißem Hemd und noch weißerem Lächeln: Hou Yu-ih, Präsidentschaftskandidat der oppositionellen, konservativen Kuomintang-Partei (KMT).
Nationalisten-Fluchtort Weil sie den chinesischen Bürgerkrieg gegen Mao Zedongs Kommunisten verloren, flohen die Nationalisten um General Chang Kai-Shek 1949 auf die Insel Taiwan – und gründeten dort die „Republik China“. Heute sitzt die Nationalisten-Partei Kuomintang in der Opposition.
De-Facto-Staat Die Menschen auf Taiwan wählen ihre eigene demokratische Regierung, haben eigene Pässe, zahlen Steuern. Trotzdem erkennen nur noch 13 Staaten Taiwan offiziell an – vor fünf Jahren waren es noch 24. Auch Österreich tut es nicht. Der Grund dafür: China beansprucht Taiwan als Teil seines Territoriums und macht Druck auf internationale Staaten und Organisationen, die Insel nicht anzuerkennen. Auch in der UNO, der WHO und Interpol ist Taiwan nicht vertreten.
23 Millionen Einwohner hat die Insel heute. Das Pro-Kopf-Einkommen ist eines der höchsten weltweit, höher als in Österreich.
Der 66-Jährige warnt vor einem Krieg, sollte die regierende Demokratische Fortschrittspartei (DPP) bei den Präsidentschaftswahlen am 13. Jänner an der Macht bleiben. Doch die meisten Passanten interessieren sich mehr für die angebotenen Hühner- und Garnelenspieße sowie das typische, glibberige Austern-Omelette.
Gleichzeitig, nur rund 100 Kilometer westlich, dringen zwei chinesische J-20-Tarnkappenjets in den taiwanesischen Luftraum ein.
Auch das ist inzwischen Normalität. Taiwan bildet das Auge des Sturms, der sich seit Jahren zwischen den Großmächten China und USA zusammenbraut. Peking beansprucht die Insel als Teil seines Territoriums, droht mit der Eroberung. Taiwans scheidende Präsidentin Tsai Ing-wen suchte deshalb seit Jahren verstärkt die Nähe zu den USA.
Wenn am 13. Jänner ihr Nachfolger gewählt wird, gehe es dabei auch um „die Wahl zwischen Krieg und Frieden“, ließ Chinas Regierung ausrichten.
Für Taiwans Außenminister Joseph Wu ist das „ein offensichtlicher Versuch, unsere Wahlen zu beeinflussen“, wie er bei einem Gespräch mit internationalen Journalisten in Anwesenheit des KURIER erzählt.
In Kombination mit den immer häufigeren Luftraumverletzungen – fast 2.000 in den vergangenen zwölf Monaten – und Desinformationskampagnen in den sozialen Medien wolle China eine Atmosphäre schaffen, die zur Wahl eines Oppositionskandidaten führt.
Drei Oppositionskandidaten, die unterschiedlicher kaum sein könnten
Erstmals gibt es davon bei dieser Wahl gleich drei, die noch dazu unterschiedlicher kaum sein könnten. Da wäre zum einen der Ex-Polizist Hou, der sich selbst als Oppositionsführer sieht, schließlich steht er der geschichtsträchtigen KMT vor, die zuletzt 2016 regierte.
In den Umfragen liegt er aber hinter Ko Wen-Je, dem Bürgermeister der Hauptstadt Taipeh. Der Populist gründete vor vier Jahren seine eigene Partei (TPP) und hat sich der Korruptionsbekämpfung verschrieben. Er punktet vor allem bei Jungwählern, denen die KMT zu konservativ ist, die aber wegen der auf ein Jahr verlängerten Wehrpflicht auch die regierende DPP ablehnen.
Dann wäre da noch der unabhängige Kuo T'ai-ming, genannt Terry Gou. Als Gründer des weltgrößten Elektronikherstellers Foxconn brachte es der 73-Jährige es in China zu einem Milliardenvermögen, er gilt als reichster Mann Taiwans. Seine Kampagne hat es in sich, ist in Taipeh allgegenwärtig: Sein Gesicht prangt von Leuchtreklamen, von Taxis und von Handy-Hüllen, die auf den Nachtmärkten verkauft werden.
Trotz ihrer Unterschiede fischen alle drei in der entscheidenden Frage zum Umgang mit China im selben Lager: Sie wollen bessere Beziehungen zur Volksrepublik und "Krieg vermeiden", wie sie sagen. Einzeln dürften sie damit jedoch keine Chance haben, sich gegenseitig Stimmen wegnehmen. Dessen ist man sich auch in Peking bewusst.
China macht Druck, Gou zieht Kandidatur zurück
Es ist kein Zufall, dass inmitten des Wahlkampfs am 22. Oktober in ganz China Steuerermittlungen gegen Terry Gous Foxconn-Konzern aufgenommen wurden – unmittelbar, nachdem Berichte über ein mögliches Wahlbündnis zwischen Hous KMT und Kos TPP bekannt wurden. "Das Timing der Ermittlungen wirkt zu dramatisch, um nicht eine strategische Überlegung Pekings zu sein.
Außenminister Wu ortet darin gar einen "plumpen Versuch, einen unabhängigen Kandidaten einzuschüchtern und Terry Gou zum Rückzug zu zwingen“: "Wenn Herr Gou weiter kandidiert, wird seine Firma, sein Lebenswerk, in China darunter leiden. Das verurteilen wir aufs Schärfste."
Der chinesische Plan ging auf: Auch der reichste Mann Taiwans knickte ein. Am Freitag, dem Stichtag zur Anmeldung der Kandidatenlisten, gab Gou seinen Rückzug bekannt. Ob wegen der laufenden Ermittlungen in China oder seiner wohl aussichtslosen Chancen, gab er nicht bekannt.
Vizepräsident William Lai dürfte Taiwans nächster Präsident werden
Doch das war nicht die einzige Überraschung: Ko Wen-je und Hou Yu-ih reichten ihre Listen getrennt ein. Sie konnten sich nicht darauf einigen, wer als Spitzenkandidat ins Rennen geht. Damit ist fast sicher, dass der Kandidat gewinnt, der China nicht passt: der amtierende Vizepräsident William Lai (DPP), der den bisherigen Kurs der Regierung fortsetzen wird.
Außenminister Wu, Lais Parteikollege, warnt trotzdem: "Wir dürfen nicht zulassen, dass China in unsere demokratischen Wahlen eingreift. Und das sollte auch andere demokratische Länder alarmieren. Wenn ihnen das hier gelingt, werden sie das auch in anderen Demokratien versuchen."
Die verbliebene Opposition wird trotzdem weiterkämpfen, auch auf den Nachtmärkten. Dort bildet sich am Tag des Hou-Besuchs gleich die nächste Menschentraube – sie gilt aber keinem Politiker, sondern einem Mann, der ein Schwein an der Leine führt.
Dieser Artikel ist das Ergebnis einer Pressereise auf Einladung des taiwanesischen Außenministeriums. Eine Woche lang trafen 19 Journalisten aus 16 Ländern auf Persönlichkeiten der taiwanesischen Politik und Wirtschaft. Der KURIER war als einziges österreichisches Medium vertreten.
(kurier.at, jar)
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Aktualisiert am 26.11.2023, 12:20
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