Pogrome gegen Syrer in der Türkei: Was steckt dahinter?
Das kleine Geschäft ist vollkommen zerstört, der weiße Container nebenan steht in Flammen. Obst und Gemüse liegen zerschlagen auf der Straße, Männer trampeln auf Wassermelonen herum, pfeifen laut, und halten eine Türkei-Fahne in die Höhe. Im Hintergrund sind blaue Polizei-Lichter zu sehen; einschreiten will aber niemand.
Videos wie diese häuften sich in den vergangenen Tagen in den sozialen Medien, Angriffe auf syrische Flüchtlinge in der Türkei eskalierten. In etlichen Großstädten gingen wütende, nationalistische Mobs auf die Straße, Hunderte Menschen wurden festgenommen.
Gleichzeitig kam es zu Gegenangriffen von Syrern auf türkische Soldaten in den von der Türkei besetzten Gebieten in Nordsyrien. Türkische Fahnen und Bilder von Präsident Recep Tayyip Erdoğan wurden angezündet, militärische Fahrzeuge mit Steinen beworfen. Die Rede ist von mindestens sieben Todesopfern.
Was passiert gerade in der Region? Warum eskaliert die Stimmung jetzt und inwiefern spielt da die jüngste Annäherung des türkischen Präsidenten Erdoğan an den syrischen Machthaber Bashar al-Assad eine Rolle?
Auslöser für die Ausschreitungen gegen syrische Flüchtlinge, heißt es, war die Meldung, dass ein syrischer Flüchtling in der zentralanatolischen Stadt Kayseri seine siebenjährige Cousine sexuell missbraucht haben soll. Es dauerte nicht lange, bis in Kayseri die Läden syrischer Flüchtlinge in Flammen aufgingen. Erdoğan verurteilte die Angriffe scharf, trug zur Beruhigung des Mobs aber kaum bei: "Es lässt sich nichts erreichen, wenn man Fremdenfeindlichkeit und Hass auf Flüchtlinge in der Gesellschaft schürt."
Die mutmaßliche Vergewaltigung des Mädchens hat eine Wut, die sich in Teile der türkischen Bevölkerung aufgestaut hat, an die Oberfläche geholt.
Sündenböcke für strauchelnde Wirtschaft
Kein Land der Welt hat mehr Geflüchtete aufgenommen als die Türkei: 3,6 Millionen Syrer sind seit Beginn des Bürgerkrieges in Syrien 2011 in der Türkei untergekommen – auch gegen Zahlungen aus Brüssel, damit die Geflüchteten nicht in die Europäische Union gelassen wurden. Die AKP-Regierung fuhr zuerst eine Willkommenspolitik, die Syrer wurden als Teil der Bevölkerung gesehen. Statt in Flüchtlingslagern kamen sie in Städten der Grenzregion unter, heute sind dort teilweise bis zu 60 Prozent der Bewohner syrischer Herkunft.
Doch in den vergangenen Jahren wuchs die Stimmung gegen Flüchtling; verbale und körperliche Angriffe, die Misshandlung und Diskriminierung von syrischen Kindern und Frauen sind keine Seltenheit mehr. Bei den vergangenen Wahlen wurden die Syrer als Sündenböcke für die dramatische wirtschaftliche Situation in der Türkei und gesellschaftliche Probleme gesehen – sowohl von der einst gastfreundlichen Regierung als auch von der liberalen bis nationalistischen Opposition.
Bei den jüngsten Ausschreitungen gegen die Flüchtlinge wurden zum Teil regierungskritische Parolen gerufen; Erdoğan wird vorgeworfen, die Millionen Flüchtlinge ins Land gelassen zu haben. Der wiederum behauptete, die Opposition habe die Ausschreitungen provoziert.
Annäherung zwischen Erdoğan und Assads
Die Gegenangriffe der syrischen Flüchtlinge im von der Türkei kontrollierten Nordsyrien sind nur bedingt eine Reaktion auf die Eskalation innerhalb der Türkei. Wohl sind auch die jüngsten Annäherungen zwischen Erdoğan und Assad ein Grund für Wut und Angst der Syrer.
Erdoğan, der den syrischen Machthaber einst als "Schlächter" und "Diktator" bezeichnet hatte, verfolgt in Syrien zwei Interessen: einerseits der Kampf gegen die in der Türkei verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die kurdische Autonomie in der Region sowie die Unterstützung bewaffneter syrischer Oppositionsgruppen gegen PKK-Ableger; andererseits die Rückkehr "aller syrischen Flüchtlinge", so sein ewiges Wahlversprechen, in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien. Bisher hat die nur "freiwillig" und bedingt funktioniert. Der Druck auf Erdoğan, sein Versprechen einzuhalten – sowohl aus der Gesellschaft als auch von seinen teils ultranationalistischen, islamistischen Bündnispartnern – nimmt zu.
"Ankara glaubt, dass es an der Zeit ist, Gespräche mit Damaskus aufzunehmen, um die Rückkehr der Flüchtlinge zu erleichtern und ein Bündnis gegen kurdische bewaffnete Gruppen in Ostsyrien zu schmieden“, schreibt der türkische Journalist Ragıp Soylu. Doch das Assad-Regime wiederum besteht seit jeher darauf, dass sich alle türkischen Soldaten von syrischem Territorium zurückziehen. Ein unmögliches Zugeständnis für Erdoğan.
Enttäuschte Syrer
Und dennoch hat Erdoğan zuletzt sogar Gespräche zwischen Ankara und Damaskus in Aussicht gestellt. Diese sollen sogar Thema bei einem geplanten Treffen zwischen Erdoğan und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am Rande der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) sein.
Der Versuch, "den 'ewigen Krieg' mit der PKK mit dem Wunsch nach Rückführung syrischer Flüchtlinge in Einklang zu bringen", wie es die Türkei-Expertin Sinem Adar vom Zentrum für Angewandte Türkeistudien der Stiftung Wissenschaft und Politik nennt, wird von Politikwissenschaftern als eine der größten Herausforderungen der Regierung Erdoğan gesehen.
"Ein Abkommen mit Assad über die Rückkehr von Millionen Flüchtlingen ist eine sehr schwierige Hürde. Assad hat weder die Motivation noch den Willen, dieses einzugehen. Ich bin nicht überzeugt, ob die Türkei genug Anreize hat, um Assad davon zu überzeugen, so viele Menschen aufzunehmen, die sich seiner totalitären Diktatur widersetzen", so auch Ragıp Soylu.
Und die Syrer im von der Türkei besetzten Nordsyrien, viele davon - mehr aus Not als aus Überzeugung - Unterstützer Erdoğans? Sie fühlen sich verraten. Für viele Syrer ist Protest immer noch das letzte Mittel, um Unzufriedenheit auszudrücken. Doch die Bilder der brennenden Flaggen sehen auch die Türken – deren Zorn auf die Syrer dadurch wohl nur noch größer werden wird.
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