Heterogenes Syrien
"Syrien ist nicht Afghanistan", betont Banan, und erzählt von ihren Freundinnen, die in Damaskus studieren, von der Partyszene vor Ort. Ein einheitliches Bild der Frauen im multiethnischen, multireligiösen Syrien existiert nicht. Die Repression des Assad-Regimes richtete sich gegen alle kritischen Stimmen, ganz gleich welchen Geschlechts, Ethnie oder Religion. Oft heißt es, Assads Herrschaft war zumindest säkular und Minderheiten gegenüber tolerant, Frauen weder von Berufsfeldern noch Ausbildung ausgeschlossen. Assads Frau, Asma al-Assad, wurde vor der Revolution nicht nur aufgrund ihrer britischen Herkunft als "Syriens Lady Diana" verklärt.
"Frauen waren von dieser Staatsrepression noch einmal anders betroffen", sagt Sara Stachelhaus, Programmkoordinatorin für Syrien von der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung, die in Beirut sitzt. "Syrien ist eine patriarchale Gesellschaft." Im Länderbericht zu Syrien vom European Asylum Support Office heißt es, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt gab es während des Krieges "in praktisch jedem syrischen Verwaltungsgebiet", sexuelle Gewalt wurde als "Mittel zur Einschüchterung, Demütigung und Bestrafung" eingesetzt – besonders stark von Regierungstruppen ausgeübt. "Wer das überlebt hat, litt danach unter gesellschaftlicher Stigmatisierung. Die Verbrecher dieser Gewalt waren sich diesen Auswirkungen auf die Leben der Frauen bewusst", sagt Stachelhaus.
Auch in der Gesetzgebung des Assad-Regimes wurden Frauen benachteiligt: In Syrien regelt das Personenstandsgesetz, das noch auf die französische Mandatszeit zurückging, dass bei Fragen zu Eheschließung, Scheidung und Sorgerecht die Gesetzauslegung der Religionen greift. Der Großteil der Syrer ist muslimisch, untersteht der Scharia. Je nach Auslegung sind Frauen schlechter gestellt als Männer.
Vergewaltigungen in der Ehe sind im syrischen Recht kein Strafbestand. Staatsbürgerschaften können nur von Männern übertragen werden. Und: Präsident muss ein muslimischer Mann sein.
Progressives Kurdengebiet
In der kurdischen Autonomieregion Nordostsyrien wiederum wird Geschlechterparität hochgehalten, politische Ämter mit einer Frau und einem Mann besetzt; Frauen kämpfen bewaffnet für die Autonomie. Offiziell sind Vielehen und Kinderheirat verboten, "doch es gibt große Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Gebieten und gesellschaftlichen Gruppen", sagt Stachelhaus. Mancherorts werden 13-Jährige nach wie vor zwangsverheiratet; Frauen, vorwiegend ehemalige IS-Anhängerinnen, leben in Vollverschleierung. Ähnlich ist es in Regionen, die Islamisten kontrollieren.
In Idlib hatte die HTS staatliche Strukturen aufgebaut und teils autoritär regiert. Nicht nur rivalisierende radikale Islamisten, auch Oppositionelle und Aktivisten sollen öffentlich hingerichtet worden sein. Für Frauen galten Kleidungsvorschriften. Von Universität und Berufen wie Richterin, Polizistin oder Gefängniswärterin waren sie ausgeschlossen.
"Mit Islamisten gibt es keine Demokratie"
Rasha Corti war nach dem Sturz Assads nicht auf der Demo in Wien. "Für Islamisten gehe ich nicht auf die Straße", sagt die Syrerin dem KURIER. Sie ist Mitglied des Expertenrates für Integration im Bundeskanzleramt. "Natürlich überwiegt bei vielen gerade die Freude. Ihr Hauptargument: Der Säkularismus hat uns nur Leid gebracht, Allah wird es jetzt richten." Vor allem Frauen religiöser Minderheiten, Christen, Alawiten und Drusen, seien besorgt. Rasha Corti beunruhigt die Zusammensetzung der Rebellen der HTS, darunter ehemalige IS-Kämpfer und jihadistische Tschetschenen: "Sie sind ein Hindernis für eine demokratische Gesellschaft.“ Corti ist 1982 in Raqqa geboren, "Syrien war schon immer aufgeschlossener als andere Staaten in der Region, Frauen immer Teil der Öffentlichkeit. Das könnte sich ändern."
Seriöse Experten sind sich einig, dass es noch zu früh sei, um Aussagen zur Zukunft Syriens zu tätigen. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass die HTS seit der Machtübernahme Versprechungen eingehalten hat, etwa verkünden hat lassen, keine Kleidungsvorschriften für Frauen zu erlassen. Dieselben Stimmen verweisen darauf, dass die HTS von nationaler und internationaler Legitimität abhängig und deswegen gezwungen sei, sich pragmatisch zu geben.
Dem wird entgegengehalten, dass in der Übergangsregierung weder Frauen noch Minderheiten vertreten sind. Ein Regierungssprecher hat unlängst die biologische Fähigkeit von Frauen für öffentliche Ämter infrage gestellt. Ein Video zeigt HTS-Chef Al-Dschaulani, der für ein Foto einem Mädchen die Kapuze über die Haare zieht. In den sozialen Netzwerken wurde das Kopftuch, das die amerikanische CNN-Journalistin beim ersten Interview mit HTS-Chef Al-Dschaulani trug, kritisiert.
Wesentlich wird sein, was in der neuen Verfassung steht, die im Frühling ausgearbeitet werden soll. Immer wieder wird auf die UN-Resolution 2254 aus dem Jahr 2015 verwiesen, die die Inklusion aller Parteien im Land (ausgenommen Terroristen) und freie Wahlen "verlangt". Etwas, das auch die Syrerinnen und Syrer im In- und Ausland fordern. Ende der Woche protestierten Hunderte Menschen für Mitsprache- und Frauenrechte auf dem Umayyad-Platz in Damaskus.
Krieg veränderte Rollenbilder
Revolution und Krieg haben die Rolle der syrischen Frauen nachhaltig verändert, glaubt Sara Stachelhaus: "Frauen haben aktiv die Revolution mit- und vorangetragen. Während des Krieges haben sie die Rolle des Versorgers übernommen, wenn der Mann getötet oder in den Gefängnissen verschwunden ist. Syrische Anwältinnen haben im Ausland Straftäter des Regimes vor Gericht gestellt. In meinen Augen gibt es kein Zurück in vor 2010." Auch Corti sagt, dass der lange Krieg die Frauen in Syrien verändert, "mehr Freiheiten verschafft hat".
Die 21-jährige Banan träumt, wie so viele Syrerinnen und Syrer im Ausland, davon, zum Wiederaufbau beizutragen – und eines Tages das neue Syrien besuchen zu können.
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