Hamas-Chef Sinwar ist tot – geht damit der Krieg zu Ende?
Am Ende war es General Zufall, dem Yahya Sinwar in die Falle lief. Den Alleinherrscher der militant-islamistischen Hamas-Miliz jagten Geheimdienste und Elite-Einheiten seit Jahren vergeblich. Am Mittwochnachmittag war es dann eine Routine-Patrouille, die das Feuer auf den Massenmörder und zwei bewaffnete Begleiter eröffnete.
Tod von Hamas-Chef Sinwar bestätigt
Erst in der Nacht wurde die Leiche Sinwars in der Ruine von den Soldaten erkannt. Donnerstagabend nach DNA- und Gebissabgleich wurde der Tod offiziell. Israels Premier Benjamin Netanjahu triumphiert: "Ein schwerer Schlag gegen das Böse ist endlich gelungen."
Doch ist der Krieg damit nicht beendet. Nicht im Gazastreifen und nicht im Norden Israels.
Der Schlagabtausch mit der libanesischen Schiitenmiliz Hisbollah geht weiter. Auch die mit dem Iran verbündeten Schiitenmilizen aus dem Irak, Syrien und Jemen feuern weiter ihre Raketen gegen Israel.
Rache Israels an den Iran?
Immer noch steht der Vergeltungsschlag Israels gegen den Iran aus, der nach dem schweren iranischen Raketenangriff vom 1. Oktober von aller Welt erwartet wird.
Doch trotz heulender Alarmsirenen Tag und Nacht vor allem in Nordisrael erwarten die Israelis nach Sinwars Tod Fortschritte an einer in den letzten Wochen fast vergessenen Front. Fortschritte mit den Bemühungen um die Befreiung von 101 Geiseln, die seit über einem Jahr unter härtesten Bedingungen im Gazastreifen gefangen gehalten werden.
Erwartet wird die Wiederaufnahme der Verhandlungen über einen Austausch der israelischen Geiseln mit verurteilten palästinensischen Terroristen aus Israels Strafanstalten. Sowohl Sinwar wie Netanjahu ließen im vergangenen Jahr immer wieder Vorschläge zu solch einem Austausch ungenutzt.
Wer hat die Kontrolle in Gaza?
Doch mit wem kann jetzt darüber verhandelt werden? Wer hat jetzt in der Hamas-Führung nicht nur das Sagen, sondern auch die Kontrolle?
In der Hamas-Auslandsführung mit Sitz in Katar gäbe es gleich mehrere Nachfolgekandidaten. Die aber haben kaum noch Kontakt zu den Resten der Hamas-Führung im Gazastreifen.
Dort war Sinwar in den letzten Jahren Alleinherrscher. Wobei auch dessen Kontakte mit seinen bewaffneten Al-Kassam-Brigaden in den letzten Kriegsmonaten stark beeinträchtigt waren. Funkverbindung mit dem im Untergrund verborgenen Gejagten bestand allenfalls sporadisch. Nur drei Personen wussten, wo Sinwar sich versteckte.
Wo sind die Geiseln?
Problematisch ist auch der Kontakt zu den Geiselhaltern. Die Hamas wie auch die Dschihad-Milizen haben nur einen Teil der 101 verbliebenen Geiseln in ihrer direkten Gewalt. Einige sind im Gewahrsam mächtiger Clans, andere werden auch von Einzelpersonen festgehalten. Ihre Aufenthaltsorte sind zum Teil unbekannt. Stellte Sinwar Forderungen an Clans oder andere Gruppen, wurden diese befolgt. Ließ er doch Befehlsverweigerer umgehend ermorden. In den eigenen Reihen wie bei der Konkurrenz.
Angebot von Netanjahu
Netanjahu erneuerte am Donnerstag daher ein Angebot aus dem Vorjahr an alle Geiselhalter: Lösegeld und freier Abzug für jede lebende Geisel. Katar und Ägypten wollen die Vermittlungen wieder aufnehmen. Doch selbst wenn ein Austausch aller Geiseln und Strafgefangenen mit längerer Waffenruhe oder sogar Kriegsende wieder auf den Verhandlungstisch kommt – wer kann im Gazastreifen darüber noch entscheiden? Wer kann unterzeichnen?
Offizieller Vertreter Sinwars ist Chalil al Chaya. Mehr graue Maus, denn graue Eminenz. Als mächtigster Mann nach Sinwar gilt dessen Bruder Mohammed. Er ist Chef der Kampfbrigaden und war letzter Vertrauter wie inoffizieller Vertreter Sinwars. Auch er gilt wie sein älterer Bruder als fanatisch. Doch weiß er als militärischer Chef um die zerstörte Kampfkraft und auch um den schwer angeschlagenen Kampfgeist der Bewegung. Wie es aussieht, steht er in Kontakt mit Kairo. Er mag beste Aussichten auf die Nachfolge haben. Was aber noch nicht viel über die Dauer eines Nachfolgestreits sagt.
Ein schnelles Ende der Kämpfe – in der Hamas wie im Krieg – ist auch nach Sinwars Tod nicht garantiert. Sinwar vertrieb seine Gegner, wenn er sie nicht tötete. Bis zu seiner Führungsübernahme 2017 war die Hamas eine Organisation, die niemals einen Frieden mit Israel akzeptiert hätte. Doch um den eigenen Machterhalt nicht zu gefährden, willigte sie letztlich mehrfach in eine Hudna oder Tahadye ein: zeitlich begrenzte Waffenruhen. Sinwar hingegen beharrte auf dem für ihn wichtigsten: Die Vernichtung Israels und des jüdischen Volkes.
Wie es weitergehen kann, hängt auch von der israelischen Regierung ab. Auch deren Kabinett ist zerstritten. Die Extremisten unter den Ministern befürworten Landnahmen im Gazastreifen wie im Südlibanon. Sicherheitszonen, die temporär sein sollen, aber zu Dauerbesetzungen werden können. Finanzminister Bezalel Smotrich sprach bereits von neuen Siedlungen im Gazastreifen.
Sinwars Tod kann die Lage in der Region grundsätzlich verändern. Doch in welche Richtung? Einem Kriegsende im Süden könnte ein Kriegsende im Norden folgen. Washington setzt sich deshalb mit anderen westlichen Regierungen dafür ein, den Krieg einzudämmen.
Warnungen der USA
US-Präsident Joe Biden forderte schon vor Sinwars Tod telefonisch von Netanjahu, den zu erwartenden Vergeltungsschlag gegen den Iran auf militärische Ziele zu beschränken. Die lebenswichtige Ölindustrie und nukleare Einrichtungen im Iran nicht zu bombardieren. Sonst drohe ein Krieg, der den gesamten Nahen Osten überziehen würde.
Für Netanjahu wäre eine Beschränkung der Ziele aber ein schwerer Verzicht. Ein erfolgreicher Schlag gegen Irans Atombombenpläne wäre für ihn eine Art Rehabilitation. Eine Reinwaschung nach dem schweren Versagen seiner Regierung am 7. Oktober 2023 mit der Ermordung von 1200 Israelis im Hamas-Massaker.
Mit einem neuen Helden-Nimbus könnte er einem Untersuchungsausschuss gelassener entgegentreten.
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