Israelische Geiseln als Schutzschild
Und Israel hat seine Augen und Ohren überall. Es dauert Tage, eine Frage an ihn zu senden. Tage bis zur Antwort. Seine Leibwächter führen immer eine Gruppe israelischer Geiseln als Schutzschild mit sich. Ein Führer ohne ständigen Kontakt zur Truppe. Sein Gefolge fast ohne Kontakt zum Führer.
Und doch: Noch hat er die Kontrolle im Gazastreifen keineswegs verloren. Den offenen Krieg vermeiden Sinwars Kämpfer. Doch wo immer die Israelis nach Angriffen im Gazastreifen wieder abziehen, taucht die Hamas wieder auf. Im Frühjahr versuchte Israels Armee an der Hamas vorbei, Kontakt mit den mächtigsten Familienclans im Gazastreifen aufzunehmen. Ihre Versuche, sich als unabhängige War-Lords aufzuspielen, überlebten einige der Clan-Patriarchen nicht bis zum Sommer. Sinwar, Richter und Henker, duldet keine Macht neben sich.
Dabei weiß Sinwar, dass der jetzige Krieg nicht den Sieg über die israelische Armee bringen kann. Er will den bestimmenden Einfluss der Hamas in Gaza nicht verlieren. Voraussetzung dafür wäre ein baldiges Kriegsende und eine Garantie, dass es zu keinen weiteren gezielten Tötungen mehr kommt. Dann kann er die Geiseln freilassen. Danach will er die Vorherrschaft der Hamas auf das Westjordanland ausweiten. Die Konkurrenz der säkularen Fatah, die dort das Sagen hat, ausschalten.
Große Ziele, begrenzte Möglichkeiten. Auch in der Hamas-Bewegung wird Sinwars Macht und Alleinherrschaft vorerst symbolisch gewertet. Zu schnell und zu häufig waren in den letzten Monaten Israels gezielte Tötungen erfolgreich. Um die Lücken zu füllen, wären allgemeine Hamas-Wahlen notwendig. Im Gazastreifen, im Westjordanland, in der Diaspora, sogar in den israelischen Gefängnissen. Die dazu notwendige Vorbereitungszeit fehlt. Im Übergang hätte eigentlich Muhammad Ismail, der Vorsitzende des Schura-Rates, das Amt übernehmen sollen. Die graue Eminenz der Hamas und deren Schatzmeister verzichtete. Wer im Rampenlicht steht, gibt ein leichtes Ziel ab.
Personalrochaden an der Spitze der Hamas
Jetzt wird erwartet, dass Saher Dschabarin, der die militärische Führung der Hamas im Westjordanland übernommen hat, in der Praxis die laufenden Geschäfte übernimmt. Ein unerwarteter Karrieresprung. Die militärische Führung in der Westbank hatte er erst im April übernommen. Nachdem sein Vorgänger, Salah al-Aruri, in Beirut gezielt getötet worden war.
Chaled Maschal, der das Amt mehrere Jahre bekleidete, hätte nur zu gerne den Chefstuhl wieder eingenommen. Aber Sinwars Anhänger, die ihn 2017 abwählten, verhinderten die Wiederwahl. Wie auch die iranischen Lobbyisten in der Hamas-Führung. Maschal bevorzugt die arabischen Verbündeten am Golf. Dabei ist auch Sinwar nicht der bevorzugte Kandidat der schiitischen Verbündeten in Teheran.
Zweckbündnis mit dem Mullah-Regime im Iran
Sie sind auch Sinwars wichtigste Verbündete. Allerdings in einem Zweckbündnis. Für den strengfrommen Richterhenker in Gaza wird die Weltherrschaft des Islam letztlich nicht von abtrünnigen Schiiten, sondern von auserwählten Sunniten erobert. Die gegenwärtige Führungsrolle der schiitischen Mullahs bezieht sich auf das Materielle. Die geistliche Führung der Hamas hat er selbst übernommen. Ihm wird nachgesagt, dass er den Koran auswendig kennt. Über das Jenseitige hat Sinwar selbst ein Buch geschrieben. Demnach wird sich der Islam auf die gesamte Welt ausbreiten und eine Gnadenzeit anbrechen. Für alle Menschen. Nur der Platz für Frauen, Juden und Schwule könnte in dieser Welt ein wenig eng werden.
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