Yahya Sinwar, Richter und Henker: Wer ist der neue Hamas-Chef?

Yahya Sinwar trägt den Beinamen „Zwölfender“ nicht, weil er 24 Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht hat. Die Zahl bezieht sich auf 12 mutmaßliche palästinensische Kollaborateure, die er eigenhändig umgebracht haben soll: Richter und Henker in einem. Jetzt trägt er ein neues Doppelamt: Der mächtigste Mann der militanten islamistischen Hamas im Gazastreifen wurde zusätzlich noch Chef des Politbüros. Also der gesamten Hamas-Organisation im In- und Ausland.
Wo immer Yahya Sinwar sich befindet, steht er an der Spitze. Als Studentenvertreter, als Gefangenensprecher und jetzt in der Hamas. Ein Machtmensch.
Doch wie will er seine Macht ausüben? Gerade einmal drei seiner engsten Vertrauten wissen, wo er sich gerade aufhält. Dieser Ort ändert sich ständig. Auch jede elektronische Kommunikation ist auf ein Mindestmaß beschränkt. Sinwar steht auch an der Spitze der Kandidaten für gezielte Tötungen Israels.
Israelische Geiseln als Schutzschild
Und Israel hat seine Augen und Ohren überall. Es dauert Tage, eine Frage an ihn zu senden. Tage bis zur Antwort. Seine Leibwächter führen immer eine Gruppe israelischer Geiseln als Schutzschild mit sich. Ein Führer ohne ständigen Kontakt zur Truppe. Sein Gefolge fast ohne Kontakt zum Führer.
Und doch: Noch hat er die Kontrolle im Gazastreifen keineswegs verloren. Den offenen Krieg vermeiden Sinwars Kämpfer. Doch wo immer die Israelis nach Angriffen im Gazastreifen wieder abziehen, taucht die Hamas wieder auf. Im Frühjahr versuchte Israels Armee an der Hamas vorbei, Kontakt mit den mächtigsten Familienclans im Gazastreifen aufzunehmen. Ihre Versuche, sich als unabhängige War-Lords aufzuspielen, überlebten einige der Clan-Patriarchen nicht bis zum Sommer. Sinwar, Richter und Henker, duldet keine Macht neben sich.

Gibt sich nicht nur gerne kriegerisch: Der neue Hamas-Chef soll auch Palästinenser eigenhändig getötet haben
Dabei weiß Sinwar, dass der jetzige Krieg nicht den Sieg über die israelische Armee bringen kann. Er will den bestimmenden Einfluss der Hamas in Gaza nicht verlieren. Voraussetzung dafür wäre ein baldiges Kriegsende und eine Garantie, dass es zu keinen weiteren gezielten Tötungen mehr kommt. Dann kann er die Geiseln freilassen. Danach will er die Vorherrschaft der Hamas auf das Westjordanland ausweiten. Die Konkurrenz der säkularen Fatah, die dort das Sagen hat, ausschalten.
Große Ziele, begrenzte Möglichkeiten. Auch in der Hamas-Bewegung wird Sinwars Macht und Alleinherrschaft vorerst symbolisch gewertet. Zu schnell und zu häufig waren in den letzten Monaten Israels gezielte Tötungen erfolgreich. Um die Lücken zu füllen, wären allgemeine Hamas-Wahlen notwendig. Im Gazastreifen, im Westjordanland, in der Diaspora, sogar in den israelischen Gefängnissen. Die dazu notwendige Vorbereitungszeit fehlt. Im Übergang hätte eigentlich Muhammad Ismail, der Vorsitzende des Schura-Rates, das Amt übernehmen sollen. Die graue Eminenz der Hamas und deren Schatzmeister verzichtete. Wer im Rampenlicht steht, gibt ein leichtes Ziel ab.
Personalrochaden an der Spitze der Hamas
Jetzt wird erwartet, dass Saher Dschabarin, der die militärische Führung der Hamas im Westjordanland übernommen hat, in der Praxis die laufenden Geschäfte übernimmt. Ein unerwarteter Karrieresprung. Die militärische Führung in der Westbank hatte er erst im April übernommen. Nachdem sein Vorgänger, Salah al-Aruri, in Beirut gezielt getötet worden war.
Schon 2022 kündigte der neue Hamas-Anführer an, Israel mit einer „Flut von Soldaten“ zu überfallen. Dann plante er den Überfall und den Massenmord vom 7. Oktober.
Sinwar ist zum neuen Leiter des Politbüros bestimmt worden. Er folgt auf Ismail Haniyeh, der vor einer Woche in Teheran ermordet worden ist – in einem Anschlag, den der Iran, die Hamas und praktisch alle Beobachter Israel zuschreiben.
24 Jahre ist Sinwar bisher in israelischer Haft gesessen, das erste Mal als Student der Arabistik im Gazastreifen 1982.
Chaled Maschal, der das Amt mehrere Jahre bekleidete, hätte nur zu gerne den Chefstuhl wieder eingenommen. Aber Sinwars Anhänger, die ihn 2017 abwählten, verhinderten die Wiederwahl. Wie auch die iranischen Lobbyisten in der Hamas-Führung. Maschal bevorzugt die arabischen Verbündeten am Golf. Dabei ist auch Sinwar nicht der bevorzugte Kandidat der schiitischen Verbündeten in Teheran.
Zweckbündnis mit dem Mullah-Regime im Iran
Sie sind auch Sinwars wichtigste Verbündete. Allerdings in einem Zweckbündnis. Für den strengfrommen Richterhenker in Gaza wird die Weltherrschaft des Islam letztlich nicht von abtrünnigen Schiiten, sondern von auserwählten Sunniten erobert. Die gegenwärtige Führungsrolle der schiitischen Mullahs bezieht sich auf das Materielle. Die geistliche Führung der Hamas hat er selbst übernommen. Ihm wird nachgesagt, dass er den Koran auswendig kennt. Über das Jenseitige hat Sinwar selbst ein Buch geschrieben. Demnach wird sich der Islam auf die gesamte Welt ausbreiten und eine Gnadenzeit anbrechen. Für alle Menschen. Nur der Platz für Frauen, Juden und Schwule könnte in dieser Welt ein wenig eng werden.
Kommentare