Sie überlebte das Utøya-Massaker, jetzt ist sie Hoffnungsträgerin der norwegischen Politik
Wenn sie einen Raum betritt, ist ihr erster Gedanke: Wie kann ich am schnellsten fliehen, sollte jemand eine Schusswaffe zücken? Es ist nicht so, dass Kamzy Gunaratnam diese Gedanken verfolgen, aber sie begleiten die 33-jährige Norwegerin Tag für Tag, Raum für Raum. Seit exakt zehn Jahren ist das so.
"Nichts gelernt" - Überlebende 10 Jahre nach Utoya
Am 22. Juli 2011 hatte Anders Behring Breivik auf der Ferieninsel Utøya für den schwersten Terrorangriff in der Geschichte Norwegens gesorgt, 77 Menschen verloren ihr Leben. Kamzy Gunaratnam war davongekommen, indem sie von einer Klippe ins Wasser sprang und um ihr Leben schwamm, während Freunde und Kollegen im sozialdemokratischen Jugendcamp im Kugelhagel starben.
"Wenn man so etwas erlebt hat, erwartet die Gesellschaft irgendwann, dass man damit abschließt. Die Menschen wissen aber nicht, was wir erlebt haben. Das kann niemand je abschütteln", sagt sie. Die 33-Jährige ist dieser Tage eine viel gefragte Frau – nicht nur, weil sie dem Horror entkam, sondern auch, weil sie als erfolgreiche Politikerin für vieles steht, was der Attentäter hasste und was er noch heute im Gefängnis verabscheut.
Auf Sri Lanka geboren, fand ihre Familie in Norwegen Asyl, eine Heimat und Arbeit: der Vater anfangs in einer Fischfabrik, die Tochter mittlerweile in der Politik. Als Vizebürgermeisterin von Oslo setzt sie sich seit 2015 für Gleichberechtigung ein und bekämpft Rassismus. Es sind Themen, die Norwegen seit Jahren beschäftigen – und zunehmend spalten. In Oslo hat fast ein Drittel der Bevölkerung Migrationshintergrund.
"Die Leute sprechen nicht gerne darüber, dass Breivik ein Ergebnis der norwegischen Gesellschaft ist. Wir müssen uns fragen, wie wir verhindern können, dass sich der 22. Juli wiederholt. Das geht nur, indem wir vorbeugen, was Breivik geschaffen hat." Zu dem Befund kam auch die Journalistin Åsne Seierstad in ihrem Buch "Einer von uns, eine Geschichte über Norwegen".
Die Haft als Bühne
Bis heute beschäftigt das Attentat das Land. Wohl auch, weil Anders Behring Breivik, der mittlerweile Fjotolf Hansen heißt, bis heute keine Reue gezeigt hat. Die 21-jährige Haft, die Höchststrafe laut norwegischem Gesetz, nutzt er weiterhin als Bühne. Mehreren Filmstudios soll er die Produktionsrechte an seiner Geschichte angeboten haben. Erfolglos.
Vom Rechtsextremismus hat er sich nach eigenen Angaben abgewandt, hin zum demokratischen Rechtspopulismus. So stand es in dem 22 Seiten langen Brief, den er vor einem Jahr Kamzy Gunaratnam geschrieben hatte. Sie zitterte beim Lesen und antwortete mit einem offenen Brief, in dem stand: "Ich bin besser als Du, Anders. Ich bin eine bessere Norwegerin."
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