Breivik-Massaker: Spuren auf Utøya noch sichtbar

Seit den Terroranschlägen in Norwegen sind fünf Jahre vergangen. Vergessen können die Menschen dort den schwärzesten Tag ihrer jüngeren Geschichte nicht. Auf Utøya versuchen sie, damit umzugehen.

Der 22. Juli 2011 ist für die Norweger der Tag, den sie nie vergessen werden. Der Tag des größten Terrors in ihrer Geschichte. Erst der Bombenanschlag mit acht Toten im Osloer Regierungsviertel. Dann das Massaker auf der Insel Utøya. Knapp eineinhalb Stunden schoss der Massenmörder Anders Behring Breivik dort um sich. Im Café-Gebäude allein tötete er am Freitag vor fünf Jahren 13 junge Menschen innerhalb von nur hundert Sekunden. Er erschoss sie auf der Flucht oder in ihren Verstecken. Ein Mädchen traf seine Kugel mitten im Schrei, ein anderes, als sie gerade verzweifelt mit ihrem Vater telefonierte. Dann zog Breivik weiter über die Insel, am Ende hatte der Norweger 69 Leben ausgelöscht.

Danach war in Norwegen nichts mehr, wie es vorher war. In der kleinen Nation kennt jeder jemanden, der im Regierungsviertel gearbeitet hat oder bei dem Sommerlager der Jugendorganisation der Arbeiterpartei (AUF) auf Utøya war. „Es ist fünf Jahre her, aber es gibt immer noch so viele unsichtbare Wunden“, sagte AUF-Chef Mani Hussaini der Deutschen Presse-Agentur.

Gedenken

Am Freitag wollen sich die Norweger gemeinsam an die 77 Todesopfer der Terroranschläge erinnern, für die Breivik zu 21 Jahren Haft mit Sicherheitsverwahrung verurteilt wurde. Tausende wollen in Oslo zusammenkommen, darunter auch Ministerpräsidentin Erna Solberg und das norwegische Kronprinzenpaar. Später wollen sich die Menschen auf Utøya treffen, die Kinder, Geschwister, Freunde verloren haben.

Wie mit der Insel umgegangen werden sollte, war lange Streitpunkt zwischen Angehörigen, Überlebenden und der AUF, der Utøya gehört. 2015 hielt die Arbeiterpartei-Jugend zum ersten Mal wieder ein Sommercamp auf der Insel ab. In diesem Jahr eröffnet sie zum 22. Juli ein Schulungszentrum auf Utøya, in dem sich Jugendliche über die Ereignisse von damals informieren und über Themen wie Extremismus und Meinungsfreiheit diskutieren können.

Kern des Zentrums ist die Cafeteria, in der 13 Menschen starben. Instinktiv hatte die AUF das Gebäude nach den Anschlägen abreißen wollen. „Sie haben geglaubt, dass das das einzig Richtige ist“, sagte Kurator Tor Einar Fagerland, der auch eine Ausstellung zum 22. Juli im Regierungsviertel verantwortet. Doch vor allem Familien der Opfer wandten sich gegen die Pläne. Sie wollten das Haus bewahren, mit dem so viele schmerzhafte Erinnerungen verbunden sind.

Jetzt haben Teile der Cafeteria einen Platz in dem neuen Gebäude. Besucher können die Einschusslöcher in den Wänden sehen, die Fenster, aus denen sich Jugendliche ins Freie zu retten versuchten, stehen offen. Das Dach des neuen Zentrums wird von 69 Holzpfeilern getragen, die die Opfer symbolisieren. Und um das Haus herum stehen fast 500 Pfeiler, einer für jeden Überlebenden.

Breitbeinig stand er da, auf dem letzten Zipfel der kleinen Insel Utøya, mit einer Waffe in der Hand. Vor ihm im seichten Wasser häuften sich Körper von Teenagern, fast alle angeschossen, manche tot, manche um ihr Leben bangend. Die Szene hat ein Polizeihubschrauber fotografiert, als das Massaker fast vorbei war und Anders B. festgenommen werden konnte. Es sind unvorstellbare Ängste, die die Jugendlichen am Freitag durchmachen mussten. Nach und nach schildern Überlebende die Ereignisse - als wollten sie sich das Erlebte von der Seele sprechen.

"Er war mit einem silbergrauen Auto zur Anlegestelle gekommen und hat seinen Ausweis gezeigt", erzählt ein Wachmann. "Er behauptete, er sei Polizist und geschickt worden, um die Sicherheit zu überprüfen. Reine Routine nach dem Terroranschlag in Oslo." Auf der Insel hatte man von den Explosionen in der Hauptstadt gehört. "Er machte einen normalen Eindruck." Ein Boot brachte ihn auf die Insel. "Wenige Minuten später hörten wir die Schüsse."

Die Sicherheit überprüfen

Breivik-Massaker: Spuren auf Utøya noch sichtbar

"Wir haben mitgekriegt, dass in Oslo Bomben explodiert sind", sagt Adrian Pracon dem Sender CNN. Er war als Jugendbetreuer mit auf der Insel. Etwa eine Stunde später sei der vermeintliche Polizist gekommen. Er bat die Jugendlichen, sich für eine Sicherheitsbesprechung zusammenzufinden. Dann fielen Schüsse. "Keiner hat sich ausgekannt, Leute rannten weg. Dann habe ich gesehen, dass der Mann auf Menschen schoss." Er habe gesagt: "Ich werde euch alle töten."

Zwei Waffen habe er mitgehabt und die Taschen voller Munition. "Er feuerte auf alle, die er sah. Wir wussten nicht, wohin wir laufen sollten", sagt Pracon. Viele sprangen in das 15° C kalte Wasser, um die 800 Meter zum Festland zu schwimmen. "Einige haben umkehren müssen." Pracon wurde in der Schulter getroffen. "Wir stellten uns tot, damit er nicht wieder auf uns schießen würde." Anders B. richtete seine Waffe sogar noch einmal auf Pracon, "aber er hat nicht abgedrückt." Der Betreuer hatte Glück, denn wie ein anderer Augenzeuge berichtete, habe der Attentäter einigen Jugendlichen in den Kopf geschossen, die bereits regungslos am Boden lagen.

SMS aus dem Versteck

Völlig verängstigt verkrochen sich die Teenager überall, wo sie nur konnten. Hinter Felsen, unter Büsche. Die 22-jährige Nicoline Bjerge Schie berichtete dem Dagbladet , wie sie sich unter Todesangst versteckt hielt: "Ich hörte die Schüsse. Sie kamen mit etwa zehn Sekunden Abstand über eine Dreiviertelstunde." Sie wollten Hilfe rufen, aber fürchteten, sich zu verraten, wenn sie telefonieren würden. Also sendeten sie SMS.
Auch Anita Bakaas' Tochter hatte ihr Handy bei sich.

Das Mädchen versteckte sich mit vier anderen in einer Toilette und schrieb seiner Mutter Nachrichten. "Während sie sich dort versteckte, wurden vor der Klotür Menschen erschossen", sagte Bakaas zur BBC . Ein Vater bekam von seiner Tochter eine spartanische SMS: "Da wird geschossen. Ich verstecke mich." - "Wir haben dann per SMS kommuniziert. Sie sagte, ich soll nicht anrufen, weil sie Angst hatte, dann entdeckt zu werden", sagte er.
Die Abgeordnete Stine Renate Haheim war auch in dem Ferienlager. "Wir sind alle in andere Richtungen gelaufen - in den Wald, zum Wasser, hinter Felsen. Wir hatten Handy-Kontakt mit den anderen. Überall waren kleine Gruppen. Wir haben versucht zu erkennen, wo die Schüsse herkamen." Eine Camp-Betreuerin erzählt, dass sie sich unter einem großen Felsen am Wasser versteckt hatte. Dann stellte sich der Attentäter darauf, um noch weitere Kinder zu finden: "Ich konnte ihn atmen hören, wie er da auf dem Stein stand."
Die Menschen am Festland merkten, dass auf der Insel etwas passierte. "Wir hörten Leute schreien, es war furchtbar", erzählte ein Teenager im britischen TV. "Viele winkten zu unser herüber."

"Die Polizei ist da!"

Haheim erinnert sich, dass sie sich winkend mit einer Gruppe von Kindern verständigt hat, die sich unweit von ihr versteckt hielt. "Auf einmal schrien sie: 'Die Polizei ist da, wir sind sicher!'" Doch der Polizist war Anders B. "Wir hatten nicht gewusst, dass er mit einer Uniform verkleidet war", sagt sie.

Als 2012 das Urteil gegen den geständigen Täter Anders Behring Breivik gesprochen wurde, hieß es: 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung. Der 33-Jährige sei zurechnungsfähig, sagte Richterin Arntzen damals. Das Urteil wurde einstimmig getroffen. Weil das Gericht zusätzlich zur Höchststrafe eine Sicherungsverwahrung verhängte, die alle fünf Jahre verlängert werden kann, ist bis heute unklar, ob Breivik jemals wieder das Gefängnis verlassen wird. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, obwohl Norwegen keine Lebenslange Haft kennt.

Die Erklärung dazu

Norwegen gehört zu den weltweit rund 20 Staaten, die eine lebenslange Haftstrafe in ihrem Strafrecht abgeschafft haben. Das norwegische Rechtssystem kennt eine Höchststrafe von 21 Jahren Gefängnis. Ein Verurteilter kann dennoch für immer hinter Gittern bleiben - wenn das Gericht beim Urteilsspruch die sogenannte Verwahrung ("forvaring") verhängt, deren Ende ungewiss ist.

Nach 21 Jahren "forvaring" kann die Strafe zunächst um bis zu fünf Jahre verlängert werden. Da die Anzahl der Verlängerungen um jeweils fünf Jahre nicht begrenzt ist, kann ein so verurteilter Täter bis zu seinem Tod im Gefängnis bleiben.

Psychisch kranke Straftäter, die als vermindert schuldfähig oder schuldunfähig eingestuft werden, kommen ähnlich wie beim deutschen Maßregelvollzug in eine geschlossene Fachklinik. Ein Staatsanwalt kann den Aufenthalt alle drei Jahre verlängern, der Straftäter einmal im Jahr Entlassung beantragen.

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