"Sie haben die Menschen als Schutzschilde benutzt"

"Sie haben die Menschen als Schutzschilde benutzt"
Hunderte tote Zivilisten, Massengräber und Angriffe auf zivile Gebäude: Immer mehr russische Gräueltaten werden beklagt.

"Mein Instinkt sagt: Wenn das kein Kriegsverbrechen ist, was ist dann ein Kriegsverbrechen?" Nach ihrem Besuch in Butscha, in dem Hunderte Zivilisten öffentlich hingerichtet wurden und deren Leichen die Straßen säumten, zeigte sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erschüttert über das Vorgehen der russischen Armee in dem Kiewer Vorort.

"Menschen wurden im Vorbeigehen getötet", sagte sie. "Wir konnten auch mit unseren eigenen Augen sehen, dass die Zerstörung in der Stadt in das zivile Leben zielte. Wohnhäuser sind keine militärischen Ziele."

Die Kriegsverbrechen gehören aufgeklärt, forderte die Kommissionspräsidentin.

UKRAINE-RUSSIA-CONFLICT

Keine 30 Kilometer weiter nordwestlich, in dem Vorort Borodianka, bietet sich ein ähnliches Bild: leblose Körper auf der Straße, Frauen, Kinder, zum Teil gefesselt, ermordet und notdürftig verscharrt.

"Kinderspielzeug liegt überall auf der Straße verstreut – zu viel, um es zählen zu können. Ein Wohnblock ist von einer Explosion förmlich ausgehöhlt, eine verkohlte Matratze hängt unter freiem Himmel. Ein ausgebrannter Panzer ist in den Ruinen eines zerstörten Gebäudes geparkt.“ So beschreibt ein AFP-Journalist die Szene vor Tagen. 

"Sie haben die Menschen als Schutzschilde benutzt"

"Die Gräueltaten in Borodianka werden die in Butscha in den Schatten stellen. Was die Zahl der Opfer betrifft, so ist die Situation in Borodianka am schlimmsten. Da gibt es viel zu verarbeiten“, ließ die ukrainische Staatsanwaltschaft verlauten.

Immer mehr Massengräber

Etliche Gemeinden rund um die Hauptstadt standen für Tage, für Wochen unter ständigem Beschuss - darunter Makariw, Butscha, Irpin und Dmytriwka. Nach dem Abzug der russischen Soldaten werden immer mehr Massengräber entdeckt, zahlreiche zivile Todesopfer gefunden. Mehr als 1.200 Tote wurden bislang in der Region um Kiew gezählt.

"Nahe der Tankstelle von Busowa haben wir heute noch tote Zivilisten in einer Grube gefunden“, sagte der Gemeindevorsteher Taras Didytsch etwa in der Nacht auf Sonntag im ukrainischen Fernsehen.

Auf der Trasse von Kiew nach Schytomyr seien zudem nahe der Hauptstadt Leichen bei beschossenen Autos entdeckt worden.

"Sie haben die Menschen als Schutzschilde benutzt"

In Obuchowytschi, rund 70km nordwestlich von Kiew, kämpften bis vor wenigen Tagen noch russische gegen ukrainische Soldaten in den Straßen. Um die Häuser des kleinen Ortes - vor dem Krieg lebten hier 1.500 Menschen - legten russische Soldaten unzähige Gräben. Sie dienten ihnen als Schutz im Häuserkampf gegen die ukrainischen Verteidiger. 

AFP-Reporter zählten vor Ort allein in einer Straße fünf Gräben zwischen Wohnhäusern, daneben Kettenspuren von Panzern, in den Gräben Reste von Rationspaketen, zurückgelassene Militärkleidung und leere russische sowie belarussische Zigarettenschachteln.

"Sie haben die Menschen als Schutzschilde benutzt"

Schenja Babenko, 75-jährige Bewohnerin von Obuchowytschi erzählt: "Sie wussten, dass unsere Leute keine Wohnhäuser beschießen würden. Sie haben die Menschen als Schutzschilde benutzt."

"Es ist schlimm, dass sie nicht ins freie Feld gegangen sind um zu kämpfen, sondern dorthin, wo viele Menschen waren",  berichtet die 35-jährige Julia Piankowa. "Sie holten uns aus dem Keller, zählten uns und begannen am nächsten Tag zu graben", erzählt die Mutter. "Sie haben die Gräben für die Fahrzeuge ausgehoben und uns als Schutzschilde benutzt."

Putin: Hauptkriegsverbrecher des 21. Jahrhunderts

Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa wirft Russland vor, in allen Regionen der Ukraine Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Kremlchef Wladimir Putin bezeichnete sie als den "Hauptkriegsverbrecher des 21. Jahrhunderts". Die Ukraine habe 5.600 Fälle mutmaßlicher Kriegsverbrechen mit 500 Verdächtigen identifiziert.

Auch der Raketenangriff auf den Bahnhof der Stadt Kramatorsk mit über 50 Toten zähle dazu. "Absolut, das ist ein Kriegsverbrechen", sagte Wenediktowa am Sonntag gegenüber Sky News. Es sei eine russische Rakete gewesen, die mehr als 50 Menschen getötet habe, die mit ihren Kindern auf ihre Evakuierung gewartet hätten.

"Das waren Frauen, das waren Kinder, und sie wollten einfach nur ihr Leben retten", sagte Wenediktowa. Man habe Beweise dafür, dass es sich um einen russischen Angriff gehandelt habe.

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Auch Präsident Wolodymyr Selenskij verurteilte den Angriff auf den Bahnhof als ein weiteres Kriegsverbrechen. Der Bahnhof soll von einer ballistischen Kurzstreckenrakete vom Typ Totschka-U getroffen worden sein. Diese habe Streumunition enthalten. Streumunition, auch Clustermunition genannt, werde nicht zielgerichtet eingesetzt, so der Regionalgouverneur Pawlo Kyrylenko.

Russland hingegen behauptet, die Rakete sei eine ukrainische Rakete gewesen. Generell streitet Moskau jegliche Beteiligung an sämtlichen Gräueltaten ab, spricht von Inszenierung. Davon, dass Schauspieler Selenskij die Bilder in seinen Studios inszenieren würde. 

Für den russischen Außenminister Sergej Lawrow handelt es sich bei den Taten um "erfundene Angriffe" mit dem Ziel, Russland zu diskreditieren.

Britischer Geheimdienst: Russische Truppen zielen auf Zivilbevölkerung

Der britische Geheimdienst sieht das freilich anders: Nach dem russischen Abzug gibt es seinen Erkenntnissen nach Beweise dafür, dass nicht am Kampfgeschehen beteiligte Menschen auf unverhältnismäßige Weise zur Zielscheibe geworden sind.

Es gebe Massengräber, Geiseln seien als menschliche Schutzschilde gebraucht und zivile Infrastruktur vermint worden, teilte das britische Verteidigungsministerium in der Nacht auf Sonntag via Twitter mit.

Funksprüche, Satellitenbilder 

Dass es sich beim Massaker in Butscha weder um Inszenierung, Zufallstaten, noch um Aktionen einzelner aus dem Ruder gelaufener Soldaten, sondern um kalkulierte, bewusst gesetzte Aktionen und zermürbende Kriegstaktik der Russen handle, legen gleich mehrere Quellen nahe.

So hat der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) laut Spiegel Funksprüche russischer Soldaten in der Ukraine abgefangen. Diese haben demnach die Morde an Zivilisten besprochen. Ein Soldat erzählte seinen Kameraden etwa, er hätte gerade einen Mann von seinem Fahrrad geschossen. In einem anderen Funkspruch soll ein Mann sagen: Man befrage Soldaten zunächst, dann erschieße man sie.

Auch Anfang voriger Woche veröffentlichte US-Satellitenbilder bestätigen, dass zahlreiche der in dem Kiewer Vorort gefundenen Leichen bereits vor dem Abzug der russischen Truppen dort gelegen haben.

Die "hochauflösenden" Bilder "bestätigen die jüngsten Videos und Fotos in den sozialen Medien, auf denen Leichen zu sehen sind, die seit Wochen auf der Straße liegen", erklärte ein Sprecher der US-Satellitenbildfirma Maxar Technologies.

Dass Russland von dieser skrupellosen Strategie des Schreckens abrücken wird, ist nicht zu erwarten - im Gegenteil. 

Aleksandr Dwornikow ist von Russland als neuer Kommandant in der Ukraine vorgesehen. Der 60-Jährige hat schon in Syrien Diktator Bashar al Assad zum Sieg verholfen, indem er Bomben auf Wohnviertel werden ließ und so die Moral der Zivilbevölkerung endgültig gebrochen hat. 

 

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