Die Russen haben ein anderes Weltbild als der Westen. Das liegt nicht nur an der Propaganda, sondern auch am jahrzehntelang eingeübten Selbstbild – das ist für den Westen schwer zu begreifen.
Es ist Donnerstagabend, auf Rossija 24 läuft eine Sendung über die „Operation“ in der Ukraine. Im Bild: zwei Soldaten, die an einer Schaufensterpuppe herumdoktern. „Die Ukrainer präparieren Fake-Leichen, um die angebliche Attacke der Russen in Butscha nachzustellen“, sagt der Kommentator.
Wer das hierzulande sieht, wundert sich vermutlich, wird vielleicht danach googeln und auf ein Facebook-Posting einer Petersburger Regisseurin stoßen, die sagt: „Das ist gelogen. Das ist mein Film!“
Wer dasselbe in Russland macht, sieht eine andere Wahrheit. Facebook ist gesperrt, das Posting nicht sichtbar, und Yandex, die größte Suchmaschine weit vor Google, listet bei „Butscha“ nur Artikel wie: „Ausländische Journalisten verschweigen Wahrheit“ oder „Butscha, ein Fake von Selenskijs Film-Firma“. Auch in der Bildersuche sah man bis vor Kurzem nur Fotos blühender Landschaften und pittoresker Häuser.
Wie können die Russen das nur glauben? Und warum informiert sich niemand bei BBC, New York Times und Co.?
Auf der Suche nach der Antwort hilft ein Blick in die Geschichte. Schon die Sowjets beanspruchten die alleinige Wahrheit für sich – und benannten ihre größte Zeitung Prawda danach. Sie und ihre Schwester Izwestija, zu deutsch Nachrichten, brachten freilich nie das, was sie versprachen. Es gab keine Katastrophen, außer im Westen, und wer wirklich etwas erfahren wollte, musste das Zwischen-den-Zeilen-Lesen beherrschen. Nicht umsonst scherzten die Russen stets: „In der Prawda gibt es keine Wahrheit, in der Izwestija keine Nachrichten.“
Putin ist der legitime Erbe dieser toxischen Realitätsverschiebung. Wie, das führt allabendlich Russlands wichtigste Politshow vor: Bei Wladimir Solowew sitzen sechs „Experten“, alle erzählen verschiedene Versionen eines Ereignisses – eine ist meist wahr, der Rest abenteuerlich. Allein dadurch, dass abgewandelte oder falsche „Wahrheiten“ überrepräsentiert sind, verliert der Zuseher den Überblick. Er glaubt alles ein bisschen, die Wahrheit wird schon irgendwo dazwischen liegen.
Putins Kriege und Machterhalt
Diese „Fragmentierung der Realität“, wie Yale-Historiker Timothy Snyder das nennt, hat in Russland zu einer regelrechten Apathie geführt. Das Vertrauen in Medien sinkt seit Jahren, Enthüllungen – ob westlicher oder russischer Medien – wird kaum Glauben geschenkt.
Dazu kommt das Selbstbild: Die Russen als ein leidendes, schicksalsergebenes Volk – das ist seit Jahrhunderten ein Narrativ, um die Bevölkerung still zu halten, und funktioniert bis heute. Im Westen ist diese Weltsicht schwer nachzuvollziehen. Snyder hat das unter dem Motto „Westsplaining“ – angelehnt an „Mansplaining“ – kritisiert: Der Westen erteile der Ukraine zwar Ratschläge, echtes Bewusstsein für die Realität der Ukrainer und der Russen fehle aber.
"Dekadenter Westen"
Putin nützt diese Überheblichkeit auch noch. Er lässt seiner Bevölkerung schon in der Schule erzählen, dass der „dekadente Westen“ die „russische Seele“ nie verstehen werde und sich von ihrer Stärke, Größe und Tiefe bedroht fühle. Ein Chauvinismus, der verfängt. Dass Kiew mit sinistrer Hilfe der USA an Atombomben bastle und „Bio-Kampfstoffe gegen die russische Ethnie“ entwickle, scheint vor dem Hintergrund freilich plausibel – aus solchen Erzählungen speist sich die russische Identität.
Russische Forscher vergleichen das mit der Gleichschaltung der Nazis. Das sei aber eine Waffe mit unabsehbarem Effekt, sagt der Moskauer Soziologe Grigorij Judin, der für seine Arbeit bereits verhaftet worden ist: Der Kreml bläut seinen Bürgern nun ein, dass in der Ukraine nicht nur Politiker Nazis seien, sondern alle Bürger – sie leisten ja Widerstand. Das stachle die Armee zu Gräueltaten wie in Butscha an: „Befreiung heißt jetzt Säuberung. Ich befürchte, die schlimmsten Dinge werden noch kommen.“
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