Setzt die Ukraine jetzt alles auf eine Karte?
Massive Bombardements auf einer Linie von 170 Kilometern, Artillerieangriffe auf mindestens 16 Ortschaften – die russischen Streitkräfte setzen ihr Feuer an der westlichen Front von Cherson unvermindert fort. Dort, wo laut ukrainischem Verteidigungsminister Olexij Resnikow bald „besetztes Gebiet im Süden“ zurückgewonnen werden soll.
Eine Million ukrainische Soldaten soll – so sagte er der britischen Times – mobilisiert und mit westlichen Waffen ausgestattet werden, um „Küstengebiete im Süden“ zurückzuerobern.
Schwierige Lage
Zusätzlich zu ihrer Vorkriegsstärke von 196.000 Berufssoldaten verfügen die ukrainischen Streitkräfte über 900.000 Reservisten. Resnikow meint gegenüber der Times, es würden sich Menschen von Portugal bis Polen dazu entscheiden, „zurückzukommen und ihr Land zu verteidigen“.
Dass die Lage derzeit schwierig ist, räumt Resnikow dennoch ein: „Wir brauchen dringend mehr (Waffen), um die Leben unserer Soldaten zu schützen. Jeder Tag, den wir auf Haubitzen warten, kann uns 100 Soldaten kosten“, sagt er. Damit bringt der ukrainische Verteidigungsminister zwei große Probleme auf den Punkt: „Einerseits die strategische Komponente“, sagt Oberst Markus Reisner, Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie, zum KURIER.
Kampf um Mykolaiv
„Im Südwesten haben die Russen den Dnepr überschritten, könnten im kommenden Frühjahr die Stadt Mykolaiv nehmen und dann weiter nach Odessa vorstoßen. Damit hätten sie die Ukraine vom wirtschaftlich wichtigen Meereszugang abgeschnitten.“
Die andere Komponente sei der Informationskampf: „Die Ukraine braucht einen militärischen Erfolg, um weiterhin Waffenlieferungen des Westens zu erhalten. Nur wenn eine theoretische Aussicht besteht, dass die Ukraine Widerstand leisten kann, wird es weitere Waffenlieferungen geben“, sagt er.
Energiekrise
Dazu kommt, dass der Winter für die ukrainische Bevölkerung eine Katastrophe wird: 80 Prozent der ukrainischen Energieproduktion befinden sich bereits in russischer Hand, zeigt Reisner in seinem neuesten Informationsvideo auf. Dennoch dürfte auch Europa in dieser Zeit große Probleme in puncto Energieversorgung haben und mehr mit sich selbst beschäftigt sein.
Qualität und Quantität
„Beide Seiten werden versuchen, bis zum Ende des Sommers eine Entscheidung herbeizuführen. Entscheidend für eine etwaige ukrainische Offensive wird allerdings nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der Truppen und deren Ausrüstung sein“, sagt Reisner und verweist beispielsweise auf die Luftüberlegenheit, die derzeit Russland innehat. Für eine erfolgreiche Offensive benötigen die ukrainischen Truppen auch gut ausgebildete Kämpfer. Wie viele der anfangs 196.000 Berufssoldaten noch kämpfen können, ist derzeit nicht in Erfahrung zu bringen. Laut ukrainischer Regierung starben bis Anfang Juni – also vor der Einnahme des Oblasts Lugansk – 10.000 Soldaten, 30.000 sollen verwundet worden sein.
„Sollte die Ukraine jetzt bei Cherson alles auf eine Karte setzen, geht Kiew ein hohes Risiko ein“, sagt Reisner.
„Im Bereich der Artillerie konnte die Ukraine allerdings kürzlich neue Erfolge verbuchen, vor allem mit ihren acht neuen HIMARS (ein US-Mehrfachraketenwerfersystem, Anm.).“
Immer wieder treffen die Waffen russische Offiziere und Munitionsdepots, doch die Antwort der russischen Streitkräfte ließ nicht lange auf sich warten: Am Montag bombardierte deren Artillerie nicht nur die Front im Westen, sondern auch jene im Raum Kramatorsk sowie die Stadt Charkiw. Mindestens sechs Menschen kamen ums Leben.
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