Der Nachschub hängt in Washington, D.C. fest: Dort dreht sich das Repräsentantenhaus seit mittlerweile sechs Monaten um sich selbst, weil Teile der Republikaner die in Kiew dringend benötigten und versprochenen 60 Milliarden Dollar blockieren. Jetzt hat Sprecher Mike Johnson nach einem plötzlichen Sinneswandel einen neuen Anlauf gestartet, um das Geld loszueisen. Ob er mit seinem Plan, die eingefrorenen Russen-Milliarden dafür zu verwenden, auch den rechten Hardcore-Flügel der Partei überzeugen kann, muss sich aber erst weisen – und wird wohl noch dauern.
Diese Zeit hat man in Kiew aber nicht. Das ist der Grund, warum Selenskij plötzlich die rhetorische Büchse der Pandora öffnet: Brauchen die USA bis Sommer für ihre Entscheidung, könnten die ukrainischen Stellungen bereits eingebrochen sein – und Putins Soldaten mit großen Schritten Richtung Westukraine vorrücken. Das weiß man in Kiew genauso wie in Washington: In Politico sprach ein hochrangiger ukrainischer General kürzlich sogar davon, dass es „nichts gibt, was der Ukraine jetzt helfen könnte“ – freilich unter dem Schutz der Anonymität.
"Dumme" Bomben
Gemeint ist damit vor allem, dass die Russen zuletzt in großem Stil sogenannte Gleitbomben einsetzen, mit denen sie viel größere Schäden als mit Kamikaze-Drohnen anrichten. Die sind billig und einfach zu produzieren; teils jahrzehntealte Sowjet-Gleitbomben, die früher nur Kampfjets abwerfen konnten, werden einfach mit ausklappbaren Flügeln und simplen Navigationssystemen ausgestattet. Die einst „dummen Bomben“ werden so zu Präzisionswaffen mit enormer Sprengkraft, hinterlassen Krater von bis zu 20 Metern Breite und sechs Metern Tiefe. Die Druckwelle beschädigt Gebäude in bis zu einem Kilometer Entfernung.
Die Russen schießen damit die ukrainischen Stellungen sturmreif, um weitere Bodenoffensiven vorzubereiten; auch die Großstadt Charkiw spürt das derzeit: Allein im März wurden 2300 solcher Bomben registriert, heuer bereits 16 Mal mehr als 2023. Abfangen können die Ukrainer sie so gut wie kaum: Sie werden weit hinter der Frontlinie abgeschossen, und für flächendeckenden Schutz fehlen der Ukraine Kampfjets und Patriot-Luftabwehrsysteme – 25 bräuchte das Land, gerade mal drei gibt es. Und bis die Kampfflieger kommen, wird es wohl Herbst sein.
Stimmung ändert sich
In Kiew macht sich daher Verzweiflung breit. „Wir haben praktisch keine Gegenmaßnahmen", stellte der Think Tank Deep State jetzt fest. Das hat Gewicht: Die Analysten stehen dem Kiewer Verteidigungsministerium nahe.
Je lauter diese Stimmen werden, desto angreifbarer wirkt eine Staatsführung, die unverdrossen von Sieg und Rückeroberung spricht. Denn auch innerhalb der Bevölkerung ändert sich die Stimmung: Vor allem in den Regionen nahe der Front wollen immer weniger bis zum bitteren Ende kämpfen. Beinahe ein Viertel der Menschen im Osten wäre bereit für territoriale Zugeständnisse, so eine Untersuchung der Kiyv International Institute of Sociology. Zugleich wünschen sich immer mehr eine langsame diplomatische Annäherung.
Selenskij ist in dieser Gemengelage also gleich von mehreren Seiten unter Druck. Und eine einfache Lösung ist nicht mal ansatzweise greifbar.
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