Fragt man Experten, lautet die Antwort durchwegs: nein. „Durchwurschteln“ nennt Politikwissenschaftler Gustav Gressel, Fellow am Berliner European Council on Foreign Relations , die jetzige Ukrainepolitik Europas. „Mit einer Strategie braucht man da gar nicht anzufangen.“
Das liegt hauptsächlich an den völlig konträren Interessen der Staaten. Während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sich seit Frühling zu den „Falken“ gesellt, sogar eine Truppenentsendung in die Ukraine ins Spiel gebracht hat, agiert Deutschland ausschließlich im Schatten der USA. Und in Washington ist das Interesse an der Ukraine ziemlich enden wollend: Joe Biden hat in seiner Zeit als Vizepräsident keine guten Erinnerungen an das Land, hält es nach wie vor für korrupt. Zudem liegen auf seinem Tisch China und der Nahe Osten – und alle Fronten gleich zu bedienen, ist selbst für eine Weltmacht unmöglich. „Brutal gesagt: Ein Land mehr oder weniger in Europa ist den USA egal“, sagt Gressel. Hauptsache, keine Eskalation, so die Devise.
Die Folge daraus: Waffenlieferungen im Tröpfchenmodus – zu wenig zum Gewinnen, zu viel zum Sterben, wie Bundesheer-Experte Markus Reisner gerne sagt. Und genau diese Strategielosigkeit – Europa plant gerade einmal zwei Wochen im Voraus, die USA schon mal sechs Monate – führt dazu, dass die Prognose für die Ukraine mehr als düster ist. Dass es ihr gelingen wird, die russische Armee völlig von den besetzten Gebieten zu vertreiben, gilt unter Experten mittlerweile als komplett unwahrscheinlich. „Die russische Armee ist jetzt auf der zweifachen Stärke wie 2022, die ukrainische unter ihrer Stärke von damals“, sagt Gressel. „Geht die westliche Unterstützung so weiter, brauchen wir nicht mehr über einen ukrainischen Rumpfstaat diskutieren. Die Russen wollen das ganze Land.“ Auch dafür fehle in Europa die Weitsicht.
Kein echter Frieden
In Deutschland werden darum vor allem in der SPD die Stimmen lauter, die nach einem Einfrieren des Konflikts rufen. Auch der ehemalige Spitzendiplomat Stefan Lehne, der einen völligen Sieg Russlands eher für „unplausibel“ hält, sieht dieses Szenario heraufdräuen, da beide Seiten wohl „irgendwann erschöpft sind“. Die meisten westlichen Experten würden dabei hoffen, dass „dieses Einfrieren der Grenzlinie möglichst weit im Osten bzw im Süden erfolgt, sodass möglichst viel von der Ukraine erhalten bleibt.“
Von einem echten Frieden könne dann aber freilich keine Rede sein, sagt Lehne. „Die Ukraine wird diese Gebietsverluste nicht akzeptieren und vermutlich lässt sich auch Putin die Option einer späteren weiteren Aggression nicht nehmen.“ Die Folge wäre also eine Demarkationslinie quer durch Europa, an der noch immer geschossen wird – und ein neuerlicher Flüchtlingsstrom Richtung Westen. „Die sagen sich: In drei Jahren ist ja wieder Krieg“, sagt Gressel. Fraglich sei auch, wie viele Investoren in die Ukraine gehen, wenn sie wissen, dass der Krieg wahrscheinlich wieder ausbricht. „So würde die EU Milliarden versenken, ohne dass es etwas bringt.“
Das „Stachelschwein“
Dazu kommt die ungeklärte Frage des NATO-Beitritts. Selbst ein Frozen Conflict muss irgendwie abgesichert werden, etwa mit einem „sofortigen NATO-Beitritt der Rumpfukraine, um Russland eine rote Linie aufzuzeigen“, sagt Gressel. Doch da stehen die USA und Deutschland auf der Bremse: Man hat noch immer die Idee, die Restukraine könnte zu einem „Stachelschwein“ aufgerüstet werden, das sich auch ohne die NATO verteidigen kann, quasi nach dem Modell Israel. Was dabei negiert wird: „Israel ist eine Atommacht das ist einfach nicht zu vergleichen“, sagt Gressel.
In Kiew dämpft das die Hoffnungen massiv. Europa vermittelt zwar offiziell, dass die Ukraine als westlich orientiertes Land überleben soll, die Wahrheit spricht aber niemand aus: Dass Gebietsverluste längst eingepreist sind, sagt kein einziger Politiker offen. „Es wäre unsolidarisch und für die Ukraine extrem entmutigend“, sagt Lehne.
Dabei kann man annehmen, dass sie in Kiew schon wissen, was in Paris, Berlin und Washington so gedacht wird. Denn selbst wenn Macron von einer Truppenentsendung spricht, ist das keine ernst zu nehmende Drohung: „Wenn wir keine Generalmobilmachung erklären, würden sich Europas Landstreitkräfte in der Ukraine völlig verlieren, die Zahl reicht bei weitem nicht aus. Bei den Luftstreitkräften hätten wir zwar einiges zu bieten – aber nur für eine Woche, dann wäre die Munition aus“, sagt Gressel. Die Amerikaner wären die einzige Macht, die der Ukraine zum Sieg verhelfen könnte – aber sie wollen nicht. „Bei den Europäern kann man darüber streiten, ob sie nur nicht wollen, sondern auch gar nicht können.“
Dennoch ist von einem Strategiewechsel, einem Schwenk in der Ukraine-Politik nichts zu sehen. Auch was die eigenen Strukturen betrifft, ist alles offen. In der EU zumindest beginnen die ersten Berechnungen, was ein Beitritt einer Rumpfukraine kosten würde. Der formale Beginn von – jahrelangen – Beitrittsverhandlungen könnte noch heuer erfolgen, nächstes Jahr muss die EU-Kommission erste Vorausschätzungen präsentieren, wie das nächste 7-Jahres-Budget der EU aussehen soll. Darin werden, sagt Stefan Lehne, die ersten größeren Umschichtungen in Richtung Ukraine bereits enthalten sein. Das ist nämlich die nächste, große Herausforderung: Der Agrarriese würde das Unionsbudget komplett umkrempeln – und damit Futter für noch mehr politische Spannungen innerhalb der Union liefern.
Ob man sich in Brüssel dessen bewusst ist? Vielleicht. Nach außen hin wird allerdings nicht darüber gesprochen. Da heißt es nur: „Die Ukraine gehört zu Europa.“
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