Bionische Arme, intelligente Prothesen – für den Großteil der ukrainischen Kriegsversehrten ist das eine Utopie. Doch einige Initiativen wollen das für immer mehr Menschen möglich machen
„In wenigen Wochen werde ich wieder an der Front sein“, sagt Olexander – und der Blick in seinen Augen zeigt, dass es ihm ernst ist. Die Muskeln seiner trainierten Oberarme treten hervor, während er sich am Barren festhält – und einen weiteren Schritt macht. Ganz leicht fällt ihm das noch nicht – denn seine beiden Beine bestehen aus Carbon und Metall. Seine „Früheren“, wie er sie nennt, zerfetzte vor einem Jahr eine russische Artilleriegranate bei Siversk.
„Ich wollte gerade zwei 19 Jahre alte Kameraden aus einer Stellung bergen, dann hat es mich erwischt“, sagt Olexander trocken. Doch er hatte Glück. Glück, dass er überlebte – und Glück, dass er an einem der besten Orte behandelt wird, die es für Kriegsversehrte in der Ukraine geben kann: die Fachklinik „Superhumans Center“ in der westukrainischen Stadt Lemberg.
Marathonläufer
Das vor etwa einem Jahr eröffnete Spital wird laufend ausgebaut, vor dem Eingang schrammen Bauarbeiter den Asphaltboden weg, um einen besseren Zugang zu schaffen. Von Baustellenlärm ist drinnen nichts mehr zu merken: Ruhige Musik, strahlend weiße Wände, bläuliches Licht – und ein Bildschirm, auf dem unentwegt glückliche Menschen mit verschiedensten Prothesen sporteln, tanzen, ihre Kinder umarmen.
„Der hier ist gerade einen Marathon gelaufen“, sagt Andrij, der Sprecher von „Superhumans“, zeigt das Foto eines stolz lächelnden Ukrainers an der Ziellinie. „Hey, wie war das Fußballspiel?“, fragt er einen vorbeikommenden jungen Mann in langen Hosen. Erst beim genaueren Hinsehen wird klar, dass auch er ein Bein im Krieg verloren hat. Sein Gang würde diesen Schluss nicht zulassen. „Wir haben gewonnen. Das nächste Mal schieße ich auch ein Tor“, entgegnet er augenzwinkernd.
Barbie-Prothese
Mehr als 400 Patienten hat das „Superhumans Center“ bisher behandelt, dabei mehr als 560 Prothesen produziert: „Jede einzelne wird genau an den jeweiligen Patienten angepasst und von unseren Fachleuten angefertigt“, sagt Andrej, während er durch die Werkstätte führt. Techniker umwickeln Arm- und Beinstumpfe aus Gips mit Basalt-Bandagen – daraus werden später die Verbindungsstücke für die Prothesen.
Sind sie fertig, werden sie auf Wunsch bemalt: Gewehre, Wappen von Einheiten, die ukrainische Flagge dominieren. Es gebe auch Ausnahmen: „Ein Offizier ließ sich vor ein paar Monaten eine Barbie für seine Tochter draufmalen“, lacht einer der Techniker.
Einen Stock weiter oben wird hart trainiert: Physiotherapeuten bringen Dutzenden Kriegsversehrten bei, mit ihren Prothesen zurechtzukommen.
Ein junger Mann bezwingt mit seiner Beinprothese kleine Hindernisse am Boden, wieder und wieder. Ein anderer balanciert einen Medizinball, während Olexander eine kurze Pause vom Barren nimmt. Einen Raum weiter lernen zwei Männer mit ihren Prothesen das Schwimmen.
Gegründet wurde „Superhumans“ von Andrey Stavnitser, dem Honorarkonsul von Österreich in der Region Odessa.
Kooperation mit Graz
Er sei stolz darauf, mit dem Österreichischen Institut für Anatomie in Graz zusammenzuarbeiten. „Unser medizinisches Team berät sich regelmäßig mit den geschätzten Kollegen des Instituts, die führende Experten in der plastischen und rekonstruktiven Chirurgie sowie in der Behandlung von Verbrennungen sind“, sagt er zum KURIER.
Für die Kriegsversehrten, die bei „Superhumans“ landen, ist – dank vieler Spenden, unter anderem von Großspendern – die gesamte Behandlung sowie die Prothesen kostenlos.
Um die 100.000 Euro würde eine solche Behandlung kosten. Dementsprechend groß ist der Andrang: „Wir haben 1.600 Personen auf der Warteliste, können derzeit etwa 70 pro Monat behandeln“, sagt Andrij. Je nach Schätzung gibt es seit Beginn des Krieges 30.000 bis mehr als einhunderttausend Kriegsversehrte. Viele können sich eigene Prothesen kaum leisten, auch der Staat schafft es nicht, alle Kosten dafür zu decken. Ist „Superhumans“ damit ein Tropfen auf dem heißen Stein? „Wir haben vor, massiv zu expandieren, planen fünf weitere Kliniken“, sagt Andrij.
Auch im „TYTANOVI“-Rehabilitationszentrum in Kiew bietet sich kriegsversehrten Soldaten die Chance auf ein besseres Leben – in diesem Jahr bisher 31. Es sind Männer, die meist auch mit den Prothesen von „Superhumans“ Probleme hätten. Zu gravierend sind ihre Verstümmelungen.
Stefan etwa wurde durch die Maschinenkanone eines Schützenpanzers fast der ganze Arm bis zur Schulter weggeschossen. Nun steckt ein Implantat aus Titan dort, wo früher sein Arm war. „Es ist die einzige Möglichkeit, wie ich jemals wieder einen Arm haben und verwenden kann“, sagt er. Das Titan wird direkt mit dem Knochen verbunden, sechzehn Sensoren wiederum mit dem Gehirn.
TYTANOVI-Zentrum
Kein Vertrauen
Gelingt die achtstündige Operation, kann später ein bionischer Arm am Titanstumpf befestigt werden. Einer, wie ihn Olexander hat. Begeistert zeigt er, wie er mit seinen bionischen Fingern eine Kugel aufheben kann, schüttelt Hände. „Ich hätte nie gedacht, dass das funktionieren kann“, schwärmt er. Sobald Stefan seinen neuen Arm hat, will er als Programmierer arbeiten. „In einer unabhängigen Ukraine“, hofft er. Sicherheitsgarantien erwartet er sich weder von Russland noch von der NATO. „Wir müssen kämpfen“, sagt er.
Eine Sicht, die der andere Olexander in Lemberg teilt. Was er denkt, wenn er die Männer in seinem Alter sieht, die sich vor der Mobilmachung drücken, während er bereits seine beiden Beine verloren hat? „Ich habe eine fünf Jahre alte Tochter, die ich mit meinem Leben verteidigen werde. Alles andere ist mir egal“, sagt er. Er erzählt, wie er in Bachmut gekämpft hat. „Nach heftigem Artilleriebeschuss ist ein kleines Mädchen auf die Straße gegangen und wollte spielen. Sie war in etwa so alt wie meine Tochter. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass meine Tochter an einem solchen Ort aufwachsen müsste.“
Zu kämpfen, das wird für Olexander an der Front nicht möglich sein, als Kraftfahrer habe er jedoch schon ein Angebot bekommen. „Und wenn auch nur einer wegen meinem Einsatz seine Meinung ändert und sich meldet, ist das auch schon etwas.“
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