Grünes Licht für NATO-Waffen auf russisches Territorium: Was droht jetzt?
„Wir wollen den Dritten Weltkrieg vermeiden“, betonte US-Präsident Joe Biden stets, wenn es um die Frage ging, ob die Ukraine mit von Washington gelieferten Waffen russische Ziele auf russischem Boden beschießen dürfe. Dieses Dogma dürfte Biden nun aufgeweicht haben – zumindest an der ukrainisch-russischen Grenze im Raum Charkiw, wo die russischen Streitkräfte seit wenigen Wochen eine neue Front eröffnet haben.
Gleichzeitig erlauben immer mehr westliche Staaten der Ukraine, mit Waffen, die sie von ihnen erhalten hat, russisches Territorium zu beschießen. Warum kam es so? Und wie wird Russland reagieren? Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen.
Warum geben die USA plötzlich grünes Licht?
Seit Beginn der russischen Invasion hat Washington stets mit einer gewissen Verzögerung auf neue Entwicklungen reagiert. Sei es die Lieferung von HIMARS und Flugabwehrsystemen, die Lieferung von Kampfpanzern, Kampfjets oder ATACMS-Raketen. Man wolle die Eskalationsspirale einhalten, ist die eine Interpretation.
Dazu gesellt sich der Vorwurf, dass durch die verzögerte Reaktion der USA viele ukrainische Soldaten und Zivilisten sterben würden. Die USA seien ein Gewinner dieses Kriegs, der auf Kosten ukrainischer und russischer Menschenleben geführt würde. Ein US-Gegenargument ist, man sei der Hauptunterstützer Kiews – und Kiew müsse entscheiden, wie es sich gegen den russischen Angriff verteidigt.
Der Schritt, den ukrainischen Streitkräften Angriffe auf russisches Territorium im Raum Charkiw zu genehmigen, ist als Antwort auf die neu eröffnete Front zu verstehen. Während Moskau immer mehr russische Soldaten an der Grenze zusammenzieht und auch eine neue Fronteröffnung etwas weiter nördlich im Raum steht, überdehnen sich die ukrainischen Streitkräfte. Wollen sie es dennoch schaffen, die kürzlich von den Russen eroberten Gebiete zu befreien, müssen sie auch die Artilleriestellungen hinter der Grenze vernichten können. Allerdings soll der Einsatz der ATACMS-Raketen (Army TACtical Missile System), die sich als effektiv gegen die russische Flugabwehr erweisen, nicht gestattet werden.
Wie reagiert Russland? Droht jetzt der Dritte Weltkrieg?
Nukleare Drohungen vonseiten Russlands gibt es de facto regelmäßig seit Beginn der Invasion. Als etwa im Herbst 2022 absehbar wurde, dass sich die russischen Streitkräfte aus der Stadt Cherson zurückziehen müssten, war plötzlich die Gefahr eines russischen Atomschlags in aller Munde. Wenige Wochen später zogen 30.000 russische Soldaten aus der Stadt ab, verließen sie über die Brücke über den Dnipro. Der Fakt, dass die ukrainischen Streitkräfte diese Soldaten nicht angriffen, legt die Vermutung mehr als nahe, dass der Abzug zwischen Washington und Moskau gegen Garantien verhandelt wurde. Ein direkter Draht zwischen Washington und Moskau ist also vorhanden. Und auch wenn der Kreml mit Konsequenzen droht, ist ein direkter nuklearer Schlag nach wie vor unwahrscheinlich. Die Konsequenzen wären für alle Beteiligten verheerend. Realistischer – und auch das zeichnet sich nicht ab – wäre die Zündung einer russischen Atombombe über dem Schwarzen Meer als Warnung.
Welche Staaten gestatten der Ukraine sonst, ihre Waffen gegen russisches Territorium einzusetzen?
Am Freitag zog auch die deutsche Bundesregierung nach – zuvor hatten bereits Großbritannien, Kanada, Tschechien, Estland, Finnland, Frankreich, Lettland, Litauen, die Niederlande, Schweden und Polen Kiew gestattet, deren Waffen gegen russische Ziele in Russland einzusetzen.
Wie ist diese Genehmigung mit dem Völkerrecht vereinbar?
Der Ukraine steht nach Artikel 51 der UN-Charta das Recht auf Selbstverteidigung zu, solange es keine Beschränkungen vonseiten des UN-Sicherheitsrats gibt. Dieser ist allerdings blockiert – rein völkerrechtlich gibt es also keine Einschränkungen für Kiew, wenn es darum geht, militärische Ziele auf russischem Territorium anzugreifen.
Wie ist die Lage an der Front?
Während sich die Öffentlichkeit mit den westlichen Genehmigungen beschäftigt und über Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit eines Dritten Weltkriegs beschäftigt, rücken die russischen Streitkräfte an anderen Frontabschnitten weiter vor und erhöhen den Druck auf die ukrainischen Streitkräfte, die de facto keine Reserven mehr haben. Die Einheiten und Verbände, die derzeit im Raum Charkiw kämpfen, fehlen anderswo und es ist nicht auszuschließen, dass der große russische Angriff nicht auf Charkiw, sondern westlich von Awdijiwka erfolgt, um bis Herbst bis zum Dnipro vorzustoßen.
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