Russen ziehen bis zu 20.000 Soldaten im Osten zusammen
Tag 51 im Krieg in der Ukraine: Nach dem Untergang ihres Schwarzmeer-Flaggschiffs "Moskwa" ließen die russischen Vergeltungsmaßnahmen nicht lange auf sich warten. Am Samstag gab es in den Morgenstunden weitere Explosionen in der Hauptstadt Kiew. Bürgermeister Klitschko appellierte an die Bevölkerung, Luftalarm der Behörden nicht zu ignorieren und an sicheren Orten zu bleiben. Am Nachmittag bestätigte Russland den Angriff auf Kiew.
Moskau hatte zuletzt mit Angriffen auf die Kommandozentralen in Kiew gedroht, nachdem das ukrainische Militär angeblich russisches Gebiet beschossen haben soll. Unterdessen soll auch bei einem Angriff auf die ostukrainische Großstadt Charkiw mindestens ein Mensch getötet und 18 weitere verletzt worden sein. Angriffe wurden zudem in der Westukraine im Gebiet Lwiw und einem Militärflugplatz in Olexandrija im Zentrum der Ukraine gemeldet. Präsident Wolodymyr Selenskyj nannte die bisher höchste Zahl getöteter Soldaten aus den eigenen Reihen.
Laut Moskau: Ukrainer aus Mariupol vertrieben
Das russische Verteidigungsministerium hat einem Medienbericht zufolge eine fast komplette Vertreibung der ukrainischen Streitkräfte aus Mariupol vermeldet. Es seien noch einige Kämpfer in der Fabrik Asowstal eingeschlossen, zitierte die Nachrichtenagentur RIA am Samstag einen Sprecher des Ministeriums. Demnach sollen die Ukrainer mehr als 4000 Militärangehörige in der belagerten Küstenstadt verloren haben. Die Angaben lassen sich von unabhängiger Seite nicht überprüfen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj drohte mit dem endgültige Aus der Gespräche mit Moskau, sollte Russland die letzten ukrainischen Truppen in der schwer umkämpften Hafenstadt Mariupol "ausschalten". Für beide Seiten wäre das eine "Sackgasse, denn wir verhandeln weder über unsere Territorien noch über unsere Leute", sagte Selenskyj am Samstag der Nachrichten-Website Ukrainska Prawda.
Mariupol wird seit den ersten Tagen nach dem russischen Einmarschs am 24. Februar belagert. Inzwischen ist die einst über 400.000 Einwohner zählende Stadt weitgehend zerstört, die humanitäre Lage ist katastrophal. Selenskyj sprach kürzlich von "zehntausenden" Toten durch die Belagerung. Am Samstag warf er Russland erneut vor, keine Fluchtkorridore zuzulassen.
Rüstungsfabriken zerstört
Russland zerstörte nach Angaben seines Verteidigungsministeriums zwei Rüstungsbetriebe. Es handle sich um ein Werk für gepanzerte Fahrzeuge in Kiew und eine Einrichtung für militärische Reparaturen in Mykolajiw. Über dem Gelände der Rüstungsfabrik in Kiew, das von zahlreichen Polizisten und Soldaten abgeriegelt wurde, stieg laut dem Bericht eines AFP-Korrespondenten Rauch auf. In der Fabrik wurden insbesondere Panzer hergestellt. Das russische Verteidigungsministerium erklärte auf Telegram, bei dem Beschuss mit "hochpräzisen Langstreckenwaffen" seien Produktionsgebäude der Fabrik zerstört worden.
Aufmarsch im Osten
Nach Angaben des Gouverneurs des Gebiets Luhansk im Osten der Ukraine hat Russland Zehntausende Soldaten für eine baldige Offensive zusammengezogen. 22 Bataillonskampfgruppen sollen es im Raum der Stadt Izjum sein – das wären etwa 20.000 russische Soldaten. Zudem seien Hunderte Einheiten Technik in die Region transportiert worden, sagte Gouverneur Serhij Hajdaj am Samstag. „Sie haben schon alles für einen Durchbruch bereit.“ Seiner Einschätzung nach warteten die russischen Truppen nur noch auf besseres Wetter, um dann zeitgleich in den Gebieten Luhansk und Donezk ihre Angriffe zu starten. In beiden Regionen soll nach Wetter-Vorhersagen voraussichtlich Mitte kommender Woche der Regen aufhören.
Brücken zerstört
Nach Einschätzung britischer Geheimdienste sprengten russische Truppen bei ihrem Rückzug aus dem Norden des Landes zuletzt gezielt Brücken, ließen Fahrzeuge auf wichtigen Routen zurück und verstreuten Landminen. Durch die Zerstörung von Straßen, Brücken und anderer Infrastruktur werde die Lieferung von Hilfsgütern erschwert. Insbesondere in Gebieten, die zeitweise unter russischer Kontrolle waren, stelle dies eine große Herausforderung dar, hieß es am Samstag in einer Mitteilung des Verteidigungsministeriums in London. In der Stadt Tschernihiw zum Beispiel gebe es nur noch eine einzige Fußgängerbrücke über den Fluss. Alle anderen seien zerstört worden.
Russland setzte seinen Angriffskrieg auch im Osten der Ukraine fort. Nach ukrainischen Angaben nahm die Großstadt Sjewjerodonezk im Gebiet Luhansk großen Schaden. Laut dem Chef der Militärverwaltung der Stadt, Olexandr Strjuk, ist die Stadt zu rund 70 Prozent zerstört. Bei einem Beschuss des Industriebezirks der ostukrainischen Metropole Charkiw sollen ukrainischen Angaben zufolge mindestens zehn Menschen getötet worden sein.
2.500 Soldaten getötet
Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Selenskyj wurden in den ersten sieben Wochen Krieg 2500 bis 3000 ukrainische Soldaten getötet. Dies sind die bislang höchsten genannten Zahlen zu Verlusten in den eigenen Reihen. Die Zahl der getöteten russischen Soldaten bezifferte Selenskyj im US-Fernsehsender CNN auf inzwischen 20.000. Moskau spricht hingegen offiziell von 1351 getöteten russischen Soldaten.
Wiederaufbau
Unteressen setzen die ukrainischen Behörden die Wiederherstellung des normalen Lebens in den Gebieten fort, die wieder unter ukrainischer Kontrolle stehen. Der Umfang der Arbeit in den 918 Orten und Städten unterschiedlicher Größe sei massiv. Russische Truppen hätten mit Stand Freitag 1.018 Bildungseinrichtungen in dem Land zerstört oder beschädigt, sagte Selenskyj. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.
Man führe Entminungsarbeiten durch, stelle die Versorgung der Orte mit Strom, Wasser und Gas wieder her, hieß es am Samstag. Auch die Polizei, Post und lokale Behörden nähmen ihre Arbeit wieder auf. Zugverbindungen seien etwa in der Region Sumy im Nordosten des Landes wieder eingerichtet oder stünden etwa mit der Stadt Tschernihiw im Norden kurz vor der Wiederaufnahme.
Selenskij forciert EU-Beitritt
Unterdessen hat es die Ukraine eilig mit dem geplanten EU-Beitritt. Nach Angaben von Präsident Selenskij sind die Antworten für einen Fragebogen für einen EU-Beitritt fast fertig: "Die Arbeit ist fast abgeschlossen, und wir werden die Antworten bald den Vertretern der Europäischen Union zur Verfügung stellen", sagte Selenskij in seiner abendlichen Videobotschaft in der Nacht auf Samstag. Der Fragebogen gilt als Grundlage für Beitrittsgespräche.
Deutschland stockt Hilfe auf
Mit einer Aufstockung der Rüstungshilfe auf zwei Milliarden Euro für Partnerländer will die deutsche Regierung auf den Ukraine-Krieg reagieren. Die Mittel sollen überwiegend der Ukraine zugutekommen. Die deutsche Regierung hatte die Ertüchtigungsinitiative 2016 ins Leben gerufen, um Partnerländer in Krisenregionen dabei zu unterstützen, selbst für Sicherheit zu sorgen.
Auf Deutschlands Straßen schlossen sich einige Tausend Menschen den Ostermärschen der Friedensbewegung an. Nach Polizeischätzungen kamen etwa in Bremen und Berlin jeweils rund 1200 Menschen zusammen und in Hannover mehr als 500 Demonstranten. Auf Plakaten und Bannern stand beispielsweise "Nein zum Krieg", "Stoppt den Rüstungswahn", "Verhandeln! statt 3. Weltkrieg riskieren" und "Wer Waffen liefert wird Krieg ernten".
Nachwehen zur Moskwa-Versenkung
Russland hat im Ukraine-Krieg diese Woche sein wichtigstes Kriegsschiff verloren. Der Raketenkreuzer "Moskwa" sei untergegangen, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau am Donnerstagabend mit. Das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte habe bei starkem Seegang seine "Stabilität" verloren, während man es abschleppte. Moskau hatte zuvor eine Explosion auf dem Schiff bestätigt. Die Ukraine behauptete, die "Moskwa" am Donnerstag mit zwei Anti-Schiff-Raketen getroffen zu haben.
Seit Kriegsbeginn am 28. Februar haben nach UN-Angaben mehr als 4,8 der ehemals 44 Millionen Einwohner das Land verlassen. Nach Angaben des Innenministeriums in Berlin hat die Bundespolizei mehr als 350.000 Geflüchtete aus der Ukraine festgestellt. Es ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl der Flüchtlinge höher liegt, da es an den Grenzen keine festen Kontrollen gibt und sich Menschen mit ukrainischem Pass 90 Tage lang ohne Visum in der EU aufhalten dürfen.
Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak beklagte einmal mehr, dass aus Europa nicht die Waffen kämen, "um die wir gebeten haben". Selenskyj forderte zudem ein Embargo für russisches Öl.
Der britische Premierminister Boris Johnson versprach Selenskyj die Lieferung bewaffneter Fahrzeuge in den kommenden Tagen. Johnson habe Selenskyj versichert, Großbritannien werde der Ukraine weiterhin Material bereitstellen, um sich selbst zu verteidigen, hieß es am Samstagabend in einer Mitteilung der Downing Street.
Die beiden Regierungschefs hätten außerdem über die Notwendigkeit einer langfristigen Lösung für die Sicherheit der Ukraine gesprochen. Johnson wolle eng mit Partnern und Verbündeten zusammenarbeiten, um zu gewährleisten, dass das Land in den kommenden Wochen und Monaten seine Souveränität verteidigen könne. In der vergangenen Woche hatte Johnson Selenskyj persönlich in Kiew getroffen.
Nach ukrainischen Angaben wurden heute insgesamt 1449 Menschen über humanitäre Korridore aus ukrainischen Städten evakuiert. Dies sei ein Rückgang gegenüber den 2864 vom Vortag, gibt ein Regierungsvertreter im Internet bekannt.
Russland verhängt Einreiseverbot gegen Johnson
Das russische Außenministerium hat ein Einreiseverbot für den britischen Premierminister Boris Johnson erlassen. Auch Außenministerin Liz Truss, Verteidigungsminister Ben Wallace und zehn weitere britische Politiker dürften nicht mehr nach Russland einreisen, teilt das Ministerium in Moskau mit. Hintergrund der Maßnahme sei "das beispiellose unfreundliche Vorgehen der britischen Regierung, insbesondere die Verhängung von Sanktionen gegen hochrangige russische Vertreter".
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