Westukraine: Urlaubsort bereitet sich auf nächste Flüchtlingswelle vor
Es sind nur sechs Autostunden von Wien in die Ukraine, nach Uschhorod. Kiew ist von dort zwölf Stunden entfernt. Die Stadt am Fluss Usch liegt direkt an der Grenze zur Slowakei, wenige Kilometer vom ungarischen Grenzübergang Zahony entfernt.
Die nähesten Angriffe Russlands waren in Iwano Frankiwsk, circa 250 Kilometer entfernt. Vom Krieg ist in Uschhorod nichts zu sehen. Es herrscht Normalität. Touristen lieben Uschhorod in Friedenszeiten wegen der längsten Lindenallee Europas, und weil die ganze Stadt gerade jetzt in ein sanftes Rosa der japanischen Kirschbäume getaucht ist, die Region bezeichnet sich gerne auch als „zweite Schweiz“, wegen der Wälder und Berge in Transkarpatien.
Aber auch jetzt sind viele Menschen hier. Nur nicht wegen der Schönheit der Stadt. Die vielen Menschen, das sind in diesen Tagen Vertriebene. Sehr viele Vertriebene.
117.000 Einwohner hatte Ushhorod, etwa 250.000 sind es jetzt. Binnenflüchtlinge, die sich aus den zerbombten Städten im Osten und Süden der Ukraine in Sicherheit bringen konnten. Viktor Katschur ist für den Sport zuständig, jetzt ist er eine Art Flüchtlingskoordinator. „Seit Kriegsbeginn arbeiten wir rund um die Uhr“, erzählt er uns. Und es klingt bekannt: „Am Anfang wussten wir nicht, wie wir das bewältigen sollen.“
Bis zu 12.000 Flüchtlinge sind täglich in Uschhorod angekommen. Zu Beginn waren die Reichen gekommen. Die Preise für Wohnen und Lebensmittel sind in die Höhe geschnellt. Es gibt keine freien Zimmer, keine Hotelbetten. Dann hat der Krieg die breite Masse in die Flucht getrieben. Uschhorod liegt an einem zentralen Bahnhof. Deshalb bekommt die Grenzstadt mit voller Wucht diese Auswirkung des Krieges ab. Viele sind in Matratzenlagern mit bis zu 180 Personen in den geschlossenen Schulen einquartiert.
Etwa in der von Direktorin Oxana Ruslen. Statt der 1.200 Schüler wohnen jetzt rund 180 Flüchtlinge in Matratzenlagern, darunter 23 Kinder und 50 verschiedene Tierarten. Die Direktorin und ihre Lehrerinnen kümmern sich darum, dass alles glatt läuft. Freiwillig. Wo diese Menschen hinsollen, wenn die Schulen wieder für den Schulbetrieb öffnen, und das ist demnächst geplant, weiß niemand.
Die Flüchtlinge werden jedenfalls nicht weniger werden. Für Viktor Katschur ist kein Ende in Sicht. Die russischen Angreifer bezeichnet er als „Räuber, die nur alles zerstören“, Hoffnung auf ein rasches Ende des Krieges hat er nicht. Im Gegenteil: Er sagt im Gespräch mit dem KURIER, dass sich seine Stadt auf die nächste Welle vorbereitet, weil immer mehr Ukrainer aus dem Raketenhagel im Osten wegwollen.
Erwartet wird, dass vor allem aus Mariupol und Odessa Menschen flüchten werden, sobald sie raus können. Mit 300.000 Flüchtlingen rechnet man allein in Transkarpatien.
Auch die Caritas-Delegation ist nicht auf Urlaub in Uschhorod, im Gegenteil. Klaus Schwertner, Direktor der Caritas-Wien, hat einen Hilfstransporter selbst in den Westen der Ukraine gefahren, er und sein Team haben einen Sattelschlepper mit Hilfsgütern begleitet.
Während des Aufenthalts in der Ukraine erreicht ihn die Nachricht, dass bereits Mitte März zwei Caritas-Mitarbeiter bei einem Angriff in Mariupol ums Leben gekommen sind, mehrere Personen wurden dabei noch verletzt. Mit dieser Information fühlt sich der doppelte Fliegeralarm in der ersten Nacht noch bedrohlicher an, auch wenn rasch Entwarnung kommt. Am dritten Tag der Hilfsmission muss das ganze Team dann doch noch in einen Bombenschutzkeller. Regionaler Fliegeralarm. Zum Glück ohne Folgen, zumindest in Uschhorod.
Pater Miroslav empfängt das Team der Caritas-Wien jedenfalls mit offenen Armen. Rund um die Uhr ist der griechisch-katholische Pfarrer und Chef der Caritas-Ukraine in der Region Uschhorod und Mukachevo im Einsatz. Ständig läutet sein Telefon, er checkt Fahrten von Flüchtlingen ins Burgenland und baut nebenbei eine Wäscherei für Vertriebene auf.
Er versorgt Einrichtungen wie die Schule von Oxana Ruslen oder Essensausgabestellen mit Nachschub aus dem Caritas-Lager, das mit Hilfsgütern aus Österreich gefüllt wird. Pater Miroslav, ist selbst Vater von drei Kindern und hat trotz der stressigen Arbeit und des vielen Leids seinen Sinn für Humor nicht verloren. Seinen Schmäh hat er sich unter anderem beim Studium in Bayern zugelegt, er hat auch enge Kontakte ins Burgenland, wo sehr viel Hilfe für die Caritas herkommt. Sein Lachen steckt an. Auch das hilft manchmal.
Er lotst das Caritas-Team über desolate Straßen in das Zentrallager in Uschhorod.
Von dort aus versorgt die Caritas die Flüchtlingseinrichtungen in der Region, aber auch die Gebiete im Osten des Landes, wo Krieg herrscht. Caritas-Generalsekretär Klaus Schwertner hat sich bei einem Lokalaugenschein davon überzeugt, wie gut die Hilfe ankommt: „Unsere Hilfe hat hier schon 500.000 Menschen erreicht. Aber wir stehen erst am Anfang des längsten Hilfsmarathons seit dem 2. Weltkrieg.“
Und weil das Lager immer gefüllt sein soll, um rasch und zielgerichtet helfen zu können, appelliert er: „Bitte spenden Sie weiter. Jede Spende hilft.“
Dazu ein Hinweis: Spenden an die Caritas und andere anerkannte Hilfsorganisationen sind steuerlich absetzbar.
In Uschhorod sind über 1.000 Freiwillige im Einsatz, etwa am Bahnhof, auf dem immer noch tausende Flüchtlinge täglich ankommen.
Jetzt erst ist ein Zug aus Kramatorsk angekommen, jene Stadt, wo der Bahnhof beschossen worden ist, als die Menschen auf ihre Züge weg vom Krieg gewartet haben. Am Bahnhof in Uschhorod ist eine private Hilfsorganisation seit Kriegsausbruch rund um die Uhr für die Binnenflüchtlinge da.
Sie heißt „Die Stärke Uschhorods“, und dort arbeiten jetzt auch viele Frauen mit, die aus Dnipro, Irpin, Kiew, Butscha und Kramatorsk geflohen sind. Sie erzählen von einem dreijährigen Kind, das beim Warten auf den Zug nach Uschhorod in der Warteschlange vor dem Bahnhof gestorben ist. Sie erzählen von den grausamen Szenen in Butscha, von den Bombenkellern und Einschlägen in ihren Wohnungen und Häusern. Wie Liliya, die nach 15 Tagen im Keller aus der Hölle von Butscha entkommen konnte. Wie Julia, die aus Dnipro flüchten konnte und deren Mutter noch in Cherson festsitzt.
Auch bei der Versorgung der Flüchtlinge mit Essen leistet die Zivilgesellschaft in der Westukraine unglaubliches. In der Essensausgabestelle „Delphin“, eine private Initiative, kochen fünf der besten Köche der Stadt, 5.000 Menschen werden täglich versorgt. Etwa von Evelin, einer 17-Jährigen aus Uschhorod, die ein Jahr in Österreich gelebt hat.
Oder von Ewa. Sie ist acht, aus Kiew vertrieben, und teilt Essen aus.
Auch die 14-jährige Viktoria arbeitet dort mit. Sie ist mit ihrer Mutter und drei Geschwistern aus Luhansk vertrieben worden. Ihr Vater ist schon 2014 beim russischen Einmarsch auf der Krim verschwunden, ihr Stiefvater musste jetzt zum Militär – mit ihm hat sie - zumindest derzeit - noch Kontakt.
In der Nachbarstadt Mukachevo funktioniert es noch nicht so gut. Da stehen die Menschen stundenlang um ein warmes Essen an.
Viele, die sich dort anstellen, sind in einem von der Caritas Spes, der katholischen Caritas in der Ukraine betreuten Studentenwohnheim untergebracht. Dort erzählt die 82-jährige Olga mit Tränen in den Augen, dass sie schon zu viele Kriege erlebt habe.
Eine andere Familie erzählt von den Nächten in den U-Bahnschächten und Bombenkellern, Katja ist 36 und schildert, wie sehr sie ihren Mann vermisst.
Im kleinen Zimmer im Studentenwohnheim versucht die 14-jährige Tochter Veronika, über Distance Learning am Schulunterricht teilzunehmen, ihre 6-jährige Schwester Lisa drückt ihr Plüschtier und denkt an den Papa, der bei den Großeltern im Kriegsgebiet ist. Die 7-jährige Kira, sie hat die Angriffe nahe Kiew hautnah miterlebt, hält ihren Teddybären fest. Sie hat ihn von ihrer Lieblingsfreiwilligen geschenkt bekommen.
Die Helferinnen sind für Pater Miroslav schon längst ein Thema. Er weiß, dass sie alle an ihren Grenzen angelangt sind, völlig erschöpft und Ruhe und psychologische Hilfe dringend brauchen würden. Seit fast zwei Monaten sind sie rund um die Uhr im Einsatz, viele selbst mit traumatische Erlebnisse und Vertreibung konfrontiert. Da will die Caritas Wien mithelfen, ein Programm aufzustellen, das hier geholfen werden kann.
Zwei Dinge klingen bei allen Gesprächen durch: Der Wunsch nach einem raschen Ende des Krieges, nach Frieden, auch wenn niemand ober der neuen russischen Offensive im Osten daran glauben kann. Und eine tiefe Dankbarkeit, gegenüber den Helfern in Uschhorod und Mukachevo, aber auch gegenüber der Caritas-Wien, die mit der zielgerichteten Hilfe aus Österreich an vielen großen und kleinen Schauplätzen im Kriegsland Ukraine Menschen beim Überleben hilft.
Die Hilfsmission der Caritas als Video und Podcast
KURIER-Redakteur Josef Kleinrath berichtet in einem Video über Uschhorod, Mukachevo und die große Hilfe, die dort geleistet wird.
Noch mehr Informationen und Hintergründe zur Reise in die Westukraine gibt es im Kurier-Podcast.
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