Die Fotos stammen vom November letzten Jahres: Sie zeigen dick eingepackte Männer und Frauen im Schnee, mit Sneakers oder einfachen Turnschuhen an den Füßen. In einer Reihe stehen sie am Grenzübergang Salla im Norden Finnlands, warten darauf, einen Asylantrag zu stellen. Geht es nach der finnischen Regierung, soll es Bilder wie diese bald nicht mehr geben. Sie plant ein Notstandsgesetz, das Rückführung ohne Bearbeitung von Asylanträgen erlauben soll – und damit gegen internationales Recht wie die Europäische Menschenrechtskonvention und die internationalen Menschenrechte verstößt.
Doch die Regierung, die rechteste, die Finnland seit dem Zweiten Weltkrieg hat, sieht sich unter Zugzwang. Zwar beschränkte sich die Zahl irregulärer Grenzübertritte in den vergangenen Monaten nur auf ein paar Dutzend. Doch groß ist die Angst, dass Russland demnächst, wenn der Schnee schmilzt und Fußmärsche einfacher würden, wieder mehr Menschen gezielt an die Grenze bringen werde, um die Europäische Union unter Druck zu setzen.
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex warnt in ihrer aktuellen Risikoanalyse, die "Wahrscheinlichkeit für das Ausnutzen von irregulärer Migration als Druckmittel" habe zugenommen.
1.300 Migranten kamen im zweiten Halbjahr 2023 über Russland nach Finnland – trotz Grenzschließung. Auch in Deutschland stiegen zuletzt die Zahlen: Im Jänner und Februar waren es jeweils weniger als 30 Feststellungen, im März schon 412. Im April wurde 670, bis Mitte Mai bereits 416 Drittstaatsangehörige festgestellt, die über Russland oder Belarus weiter nach Polen und Deutschland gekommen waren.
Kurzzeitvisa für Russland
1.340 Kilometer lang ist die Grenze zwischen Finnland und Russland, länger als die Fahrstrecke von Wien nach Minsk. Seit Anfang August vergangenen Jahres sind nach Angaben des finnischen Innenministeriums mehr als 1.300 Drittstaatsangehörige, die meisten aus Syrien, Afghanistan, Jemen, Eritrea und Somalia, ohne Visum aus Russland nach Finnland gekommen – obwohl die Grenze seit Monaten geschlossen ist. Die Zahlen begannen zu steigen, nachdem Helsinki im April des Vorjahres der NATO beigetreten war. Die bewusste Schleusung von Migranten an die europäische Außengrenze sei Russlands Antwort darauf, so Finnlands Regierung.
Erinnerungen werden wach an die zweite Jahreshälfte 2021, als Menschen an die Grenze zwischen Belarus und Polen befördert wurden. Auch damals mit dem Ziel, die Europäische Union unter Druck zu setzen, als Reaktion auf die zuvor verabschiedeten Sanktionen gegen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko.
Die Vermutung der finnischen Regierung deckt sich mit Aussagen von Asylwerbern, die in den finnischen Medien veröffentlicht wurden. Sie erzählen, dass sie in ihren Heimatländern Kurzzeitvisa für Russland erhalten hätten und über Moskau oder St. Petersburg eingereist wären; von dort sei es weiter Richtung finnische Grenze gegangen.
Verstoß gegen internationales Recht
Premierminister Petteri Orpo betonte, das Notstandsgesetz würde vorübergehend und nur in Ausnahmefällen aktiviert. Ähnliche Pushback-Methoden anderer europäischer Länder wie Polen, Ungarn, Italien und Griechenland wurden in der Vergangenheit vom Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verurteilt. Helsinki argumentiert jedoch, es brauche Ausnahmen im geltenden Recht, wenn Migranten bewusst als Waffe eingesetzt und derart Druck auf ein EU-Mitgliedsland ausgeübt würde. Gleichzeitig appellierte Premier Orpo an Brüssel, gemeinsame an Lösungen zu arbeiten.
Einer Recherche von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitungzufolge steigt auch in Deutschland die Zahl der aufgegriffenen Migranten aus Belarus und Russland: Der deutschen Bundespolizei zufolge hatte es im Januar und Februar 2024 jeweils weniger als 30 Feststellungen gegeben, im März war die Zahl schlagartig auf 412 gestiegen. Im April waren es 670, Mitte Mai bereits 416.
Für das finnische Gesetz sind fünf Sechstel der Stimmen im Parlament erforderlich sowie die Zustimmung des Präsidenten. Ein Erfolg ist nicht sicher.
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