Finnische Außenministerin: "Seit EU-Beitritt waren wir nicht mehr neutral"

Seit 4. April 2023 ist Finnland Mitglied der NATO (im Foto im Dezember 2023: Valtonen mit US-Amtskollegen Blinken).
Elina Valtonen war stets eine jener Politikerinnen, die sich öffentlich und lautstark für einen NATO-Beitritts Finnlands aussprachen. Der russische Angriff auf die Ukraine war ein Game-Changer für das nordeuropäische Land: Im Mai 2022 stimmten 188 von 200 Parlamentsabgeordneten dafür; die Zustimmung in der Bevölkerung lag laut Umfrage bei 76 Prozent, nachdem die Finnen dem Militärbündnis stets skeptisch gegenüber gestanden waren. Am 4. April 2023 wurde das bislang neutrale Finnland NATO-Mitglied.
Den rapiden Meinungswechsel erklärt sich Valtonen, die fließend Deutsch spricht, damit, dass die Neutralität weniger identitätsstiftend für die Finnen war, als sie es zum Beispiel für Österreich sei.
KURIER: Österreich ist im Kriegsfall von starken NATO-Staaten umgeben, während man sich selbst nicht beteiligt und das eigene Heer kaum verteidigungsfähig ist. Sind wir Trittbrettfahrer?
Valtonen: Das ist keine Angelegenheit, die uns angeht. Wir respektieren die Entscheidung der Österreicherinnen und Österreicher. Natürlich freuen wir uns, dass die Regierung die Militärausgaben erhöht hat. Das nützt uns allen. Finnland ist der NATO nicht nur aus eigenen, sondern auch aus europäischen Sicherheitsinteressen beigetreten. Wir glauben, dass unsere Fähigkeiten ganz Europa stärken. Europa muss stärker aufrüsten für eine glaubwürdige Abschreckung.
Was schwebt Ihnen da vor? Ein eigenes EU-Heer?
Elina Valtonen, geboren 1981 in Helsinki, wuchs im deutschen Bonn auf. Seit 2014 sitzt se im finnischen Parlament, seit 2020 ist sie stv. Vorsitzende ihrer konservativen Nationalen Sammlungspartei, seit Juni 2023 Außenministerin.
Finnland ist extrem verteidigungsfähig: Das nordeuropäische Land kann im Ernstfall 938.000 Soldaten mobilisieren. Mehr als 70 Prozent der jungen Männer rücken jährlich zum Grundwehrdienst ein – in Österreich sind es 55 Prozent der tauglichen Männer. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung würden laut einer Umfrage im Ernstfall für ihr Land kämpfen. Finnland gibt 2,5 Prozent seines BIP fürs Militär aus. Im ganzen Land gibt es unterirdische Schutzräume, die regelmäßig gewartet werden und auch bei Naturkatastrophen genutzt werden können. Jeder Politiker und jede Politikerin muss einen wehrpolitischen Kurs absolvieren.
Die Europäische Union ist eine Zivilorganisation, die NATO eine Militärorganisation. Sie hat eine Kommandostruktur, verfügt über glaubwürdige, umsetzbare Verteidigungspläne. Dennoch muss Europa in seine Sicherheit investieren, gegen hybride Kriegsführung und Cyber-Bedrohungen vorgehen, militärische Mobilität und den strategischen Kompass umsetzen.
Ein EU-Heer braucht es in diesem Sinne nicht, aber wir sind offen für alle Ideen, die die militärischen Fähigkeiten ihre Einsatzbereitschaft in Europa stärken, und nehmen den Vorschlag ernst, sollte er für Österreich eine Rolle spielen und möglicherweise sogar den Weg in die NATO ebnen.
Finnland war seit dem 2. Weltkrieg neutral und bündnisfrei. Im Oktober 2021 waren 24 Prozent der Finnen für einen NATO-Beitritt, nach Kriegsbeginn lag die Zustimmung bei 76 Prozent. Wie kam es zu diesem schnellen Meinungswechsel?
Wir verstehen uns seit unserem EU-Beitritt 1995 (zeitgleich mit Österreich, Anm.) nicht mehr als neutral. Auch juristisch gesehen waren wir es nicht mehr: Der Lissabonner Vertrag enthält eine Beistandsklausel, die noch stärker ist als der NATO-Artikel fünf. Unsere Neutralität war immer eher pragmatisch verankert als ideologisch, anders als in Österreich oder in Schweden. Der zweite Grund: Wir haben eine 1.340 Kilometer lange Grenze zu Russland.
Die finnische Bevölkerung war nie gegen die NATO, wir dachten nur, wir bräuchten sie nicht, wir haben unsere eigene starke Verteidigung. Es gab also ein Umdenken darin, dass wir dachten, wir müssten unsere militärischen Fähigkeiten ins Spiel bringen, damit so etwas wie der Ukraine niemand anderem in Europa passiert.

Elina Valtonen war zu Gast in der Diplomatischen Akademie beim "Austrian Institute for European and Security Policy" (hier im Foto mit KURIER-Redakteurin Caroline Ferstl)
Abschreckung durch Aufrüstung – droht nicht die Gefahr, dass Russland das als Aggression versteht?
Putins Russland versteht keine diplomatische Sprache, nur die der Stärke und Kraft. Je mehr militärische Stärke wir zeigen, desto besser können wir unsere Werte sichern und daran festhalten: Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat. Es war unsere Bevölkerung, die sich für den NATO-Beitritt entschieden hat – nicht um eine Bedrohung auszuüben, sondern um die eigene Sicherheit und die Gleichgesinnter zu stärken.
Finnlands Grenzübergang zu Russland ist seit Monaten geschlossen, ein Zaun wird gebaut, weil Russland illegale Migranten über die Grenze schickt. Was bedeutet das für Europa?
Moskau führt einen hybriden Krieg, bei dem Menschen instrumentalisiert werden. Das hat nichts mit einem normalen Asylprozess zu tun. Wir tun alles, um unsere Grenze zu Russland zu sichern. Gleichzeitig ist es auch die Außengrenze der Europäischen Union, des Schengenraums und der NATO. Deshalb brauchen wir für einen effektiven Grenzschutz die Hilfe unserer europäischen Freundinnen und Freunde. Ich weiß, Österreich sieht das genauso.
Stichwort europäische Freunde: Was sagen Sie zu Ungarns Blockade von Schwedens NATO-Beitritt?
Wir verstehen das Verhalten Ungarns nicht. Das ist nicht loyal. Ungarn sitzt mit Schweden bereits in der Europäischen Gemeinschaft, beide haben den Lissabonner Vertrag unterzeichnet. Schwedens Beitritt wäre sehr wichtig für die NATO und die EU. Wir hoffen, dass Ungarn diese Blockade so schnell wie möglich aufhebt.
Am Sonntag finden Präsidentenwahlen in Finnland statt. Der Konservative Stubb oder der Grüne Haavisto – mit wem würden Sie lieber zusammenarbeiten?
Als Parteikollege ist Stubb mein Favorit, wir haben schon immer eng zusammengearbeitet. Aber Haavisto war auch immer ein toller Kollege. Über Parteigrenzen hinweg denken wir in Finnland sehr ähnlich über außen- und sicherheitspolitische Fragen. Wer auch immer gewählt wird, wir werden mit Sicherheit gut zusammen arbeiten. Das ist Demokratie.
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