Im Wald sind die Menschen auf sich alleine gestellt, denn auch die belarussischen Grenzer lassen sie nicht mehr zurück. Mindestens sieben Flüchtlinge sind laut polnischer Regierung an Erschöpfung und Unterkühlung gestorben. Einige haben es weitergeschafft, etwa mit Schleppern nach Deutschland. Die Bundespolizei registrierte im Oktober zirka 5.300 unerlaubte Einreisen mit Bezug zu Belarus.
Wie viele Menschen in den Wäldern ausharren, kann keiner genau sagen. Izabella, eine Aktivistin, die mit Said vor dem Spital wartet, weiß nur, wie oft einige zurückgeschickt werden. "Bis zu 20-mal", berichtet die 26-Jährige. Sie gehört zu einer Gruppe, die Flüchtlinge mit Essen, Trinken und Kleidung versorgt – "ein Rennen gegen die Grenzbeamten", ergänzt ihre Kollegin. Polen hat dort den Ausnahmezustand verhängt und eine Sperrzone errichtet. Nur Anrainer dürfen hinein. Hilfsorganisationen und Presse wird der Zugang verwehrt.
Es sei denn, man man findet andere Lösungen, erzählt eine polnische Journalistin. "Man kann sich ärgern, oder versuchen, weiter seine Arbeit zu machen." Ihre Reportagen erzählen von Helfern, die versuchen, Flüchtlinge zu finden, ehe es die Grenzer tun. Die Migranten können sich bei einer Notrufnummer melden, dann bekommen sie einen Standort zugeschickt, wo sie dann jene treffen, die ihnen das Nötigte bringen oder sie dabei unterstützen, Formulare für einen Asylantrag auszufüllen.
Die polnische Regierung setzt indessen weiter auf Abschreckung. Wer sich dem Grenzgebiet nähert, bekommt eine SMS aufs Handy, darin steht: "Die polnische Grenze ist abgeriegelt. Belarussische Behörden erzählen Lügen, geh zurück nach Minsk! Nimm keine Pillen von belarussischen Soldaten." Polen wirft Belarus vor, die Menschen nach Europa zu locken. Die EU geht von einer Vergeltungsaktion für Sanktionen aus.
Menschen wie Saids Eltern werden so zum Spielball. Vor dem Spital in Hajnówka wartet er weiter auf Informationen über ihren Verbleib. Mittlerweile sind Reporter gekommen. Said zieht sich die Maske hoch, will nicht mit Gesicht gezeigt werden – aus Sorge um seinen Bleiberechtsstatus. Dann fällt sein Blick erneut aufs Handy. Zu seinem Vater hat er keinen Kontakt und weiß nur, dass er im Wald ist. "Er wird das schon schaffen", murmelt Said. Um seine am Bein verletzte Mutter macht er sich größere Sorgen.
Zuspruch und Hilfe bei der Übersetzung bekommt er an diesem Tag auch von Ewa Ernst-Dziedzic, außenpolitische Sprecherin der österreichischen Grünen. Die gebürtige Polin ist in die Region gefahren, um auf die Situation aufmerksam zu machen. "Die EU darf den Kopf nicht in den Sand stecken und so tun, als würden die Polen das für sich alleine lösen können." Was das Land mache, sei "völkerrechtswidrig und menschenrechtswidrig". Man könne "keine Pushbacks legalisieren und Menschen im Wald ihrem Schicksal überlassen".
"Die EU will nichts tun"
Auf dem Weg in die Grenzregion hört man auch Stimmen, die das befürworten. "Es gibt hier Menschen, die bereit sind, zu helfen, aber auch solche, die anderen den Tod wünschen", erklärt Samir. Der Algerier lebt seit sechs Jahren in Polen und arbeitet manchmal für die Polizei als Übersetzer. Er kommt gut mit den Beamten aus, fragt aber auch, was sie mit den Leuten machen, die sie aufgreift. Es gehe ihnen gut, heißt es dann. Wenn er an die Videos denkt, die er so bekommt, bezweifelt er das. "Die EU will nichts tun, sie könnte ja", glaubt er. Viel Zeit bleibe nicht, sind die Menschen noch im Dezember und Jänner in den Wäldern, werden sie erfrieren.
Sorgen, die auch Said und die Helfer umtreiben. Er hat inzwischen erfahren, dass seine Mutter aus dem Spital weggebracht wurde – angeblich in ein Erstaufnahmezentrum in der Sperrzone. Im Konvoi der Abgeordneten Ernst-Dziedzic machen sie sich auf den Weg.
Der Weg führt auf einer Landstraße durch den Wald, es ist stockfinster. Das stechende Blaulicht der Polizei bricht die Dunkelheit. Die Beamten wollen die Papiere sehen und den Grund für die Einreise hören. Nach langen Erklärungen hilft schließlich ihr Diplomatenpass, um weiterzukommen. Angekommen bei der Grenzbehörde, ist aber auch der nutzlos. Letztlich fühlt sich niemand zuständig, eine Auskunft über Saids Mutter zu geben.
Am Ende eines zermürbenden Tages wählt er erneut ihre Nummer. Kein Signal. Er glaubt, dass sie in den Wald zurückgeschickt wurde. "Dreimal ist das schon passiert", sagt er, seine Stimme stockt. Er will dennoch hierbleiben, und die Suche nach seinen Eltern nicht aufgeben.
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