Brüssel bestraft Lukaschenkos Luftpiraterie

Opposition journalist travelling on Ryanair flight arrested in Minsk
EU einigt sich auf Sanktionen und Sperre des Luftraums. Minsk veröffentlicht Geständnis-Video von festgenommenem Blogger. Hamas dementiert Bombendrohung.

Nach kapern eines Passagierjets und Festnahme eines Regimekritikers: EU-Sanktionen gegen Belarus

Die gekaperte Boeing 737-800 mit 117 Menschen an Bord, die am Sonntagabend zu einer Landung in Minsk gezwungen wurde, hat tags darauf auch den EU-Sondergipfel in Brüssel gekapert. Alle anderen Themen und Krisen, von Corona bis zur Klimafrage, traten plötzlich in den Hintergrund.

Denn nie zuvor waren die 27 EU-Staats- und Regierungschefs mit einer Situation wie dieser konfrontiert: Ein Flug zwischen zwei EU-Hauptstädten wird „entführt“, empörte sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Nach der erzwungenen Landung in der belarussischen Hauptstadt Minsk wird der junge weißrussische Blogger und Regimekritiker Roman Protassevich aus der Menge der Passagiere herausgefischt und von Sicherheitskräften abgeführt.

Am späten Montagabend bestätigte Minsk die Festnahme des Bloggers. Er sei in Untersuchungshaft genommen worden, teilte das Innenministerium am Montagabend im Nachrichtenkanal Telegram mit. Der 26-Jährige war am Sonntag am Minsker Flughafen in Haft genommen worden. Zugleich wies das Innenministerium Berichte in sozialen Netzwerken zurück, wonach der Journalist im Spital liege. Der Haftanstalt lägen keine Informationen über gesundheitliche Beschwerden vor, hieß es. Mehr als 24 Stunden hatte die autoritäre Führung des Landes keine Angaben zum Verbleib des Oppositionsaktivisten gemacht.

Die Verhandlungen in Brüssel am Montagabend waren offenbar so heikel, dass die 27 Staats- und Regierungschefs ihre Handys abgeben mussten. Um die Vertraulichkeit der Diskussion über Weißrussland und Russland beim EU-Gipfel zu gewährleisten, habe EU-Ratspräsident Charles Michel darum gebeten, die Debatte ohne elektronische Geräte zu führen, wie ein Sprecher Michels auf Twitter mitteilte.

Neue Sanktionen

Der Output hatte sich abgezeichnet: Die EU-Staaten verhängen nach der erzwungenen Landung einer Passagiermaschine in Minsk neue Sanktionen gegen die frühere Sowjetrepublik Weißrussland (Belarus). Wie ein Sprecher von EU-Ratspräsident Charles Michel am Montagabend nach Beratungen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel mitteilte, sollen belarussische Fluggesellschaften künftig nicht mehr den Luftraum der EU nutzen dürfen und auch nicht mehr auf Flughäfen in der EU starten und landen dürfen.

Zudem soll es zusätzliche gezielte Wirtschaftssanktionen und eine Ausweitung der Liste mit Personen und Unternehmen geben, gegen die Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gelten. Fluggesellschaften mit Sitz in der EU werden darüber hinaus aufgefordert, den Luftraum über Belarus zu meiden. "Der Europäische Rat verurteilt nachdrücklich die erzwungene Landung eines Ryanair-Fluges am 23. Mai 2021 in Minsk (Belarus) und die Inhaftierung des Journalisten Roman Protassewitsch und von Sofia Sapega durch die belarussischen Behörden", heißt es in einer Erklärung der Staats- und Regierungschefs. Der Blogger und seine Partnerin müssten umgehend freigelassen werden. Die Internationale Zivilluftfahrt-Organisation forderte der EU-Gifpfel auf, den "beispiellosen und nicht hinnehmbaren Vorfall" dringend zu untersuchen.

Schon bisher hat die EU knapp 90 Belarussen der politischen Elite des Landes und mehrere Organisationen wegen der gefälschten Wahlen und dem brutalen Vorgehen gegen Demonstranten unter Sanktionen gestellt. Sie betreffen auch Machthaber Lukaschenko selbst  und dessen Sohn. Diese dürfen nicht mehr in die EU einreisen, Vermögenswerte wurden eingefroren.

Geändert hat dies in Belarus, der „letzten Diktatur Europas“, allerdings bisher wenig. Ein weiteres Sanktionspaket hatte die EU deshalb bereits vorbereitet. Es sollte im Juni verkündet werden.

Weitere Provokation

Eine weitere Provokation folgte am Montag aus Moskau: Dort mokierte sich eine Sprecherin des russischen Außenministeriums darüber, dass der Westen die Ereignisse als „schockierend“ bezeichne. In Brüssel äußerten indes rund um den EU-Gipfel einige Diplomaten die Vermutung: Ohne Rückendeckung von Kremlherren Putin hätte Lukaschenko solch einen Schritt nicht gewagt.

Die schlechten Beziehungen der EU zu Russland sind ohnehin auf der Liste der Gipfelthemen gestanden. Das Treffen war somit aktueller denn je – und trübte die Freude der EU-Staats-und Regierungschefs über  einen Erfolg der vergangenen Tage: der Einigung über einen EU-weiten Grünen Pass.

Geständnis in Videobotschaft

Weißrussische Telegramkanäle verbreiteten am späten Montagabend ein Video, das den am Sonntag am Minsker Flughafen verhaftete Roman Protassevich zeigt. Der oppositionelle Journalist erklärte darin, dass es ihm gut gehe und er sich im Untersuchungsgefängnis Nr. 1 in Minsk befinde.

"Ich wurde gestern vom Innenministerium am Flughafen von Minsk festgenommen. Ich bin dabei, weiter mit den Ermittlungsbehörden zu kooperieren, sage aus und gebe zu, dass ich an der Organisation von Massenunruhen in Minsk beteiligt war", sagte er in dem Mitschnitt. Er könne bestätigen, dass er keine Probleme mit seiner Gesundheit habe und sich die Mitarbeiter der Behörden ihm gegenüber maximal korrekt und gesetzeskonform verhalten würden, erklärte Protassevich.

Unabhängige Bestätigungen für die Authentizität des 30-Sekunden Videos lagen zunächst nicht vor. Vertreter der weißrussischen Opposition erachteten es jedoch für echt. Seit dem vergangenen Sommer haben weißrussische Strafverfolgungsbehörden wiederholt Videos mit politischen Gegnern veröffentlicht, die in Haft vor laufenden Kameras sich selbst bezichtigten, Verbrechen begangen zu haben.

Flucht ins Exil

Dessen „Vergehen“: Roman Protassevich hatte über die brutale Niederschlagung der Proteste in Weißrussland berichtet. Aus Sicht der belarussischen Behörden kam dies allerdings einer „Aufwiegelung zu einem Aufstand“ gleich. Der Mitgründer des Online-Portals Nexta wurde angeklagt, im Winter floh er aus Belarus nach Litauen ins Exil.

Hamas dementiert Bombendrohung

Der Chef der Luftfahrt-Abteilung im belarussischen Transportministerium, Artem Sikorski, behauptete am Montag vor Journalisten, gegen das Flugzeug lag ein Drohschreiben der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas vor. Zum Beleg las er nach eigenen Angaben eine russische Übersetzung der angeblich auf Englisch abgefassten E-Mail vor. In der E-Mail hieß es laut Sikorski: "Wir, Soldaten der Hamas, fordern, dass Israel die Angriffe auf den Gazastreifen einstellt. Wir verlangen, dass die Europäische Union ihre Unterstützung für Israel einstellt."

Hamas-Sprecher Fawzi Barhoum dementierte die Angaben. Seine Gruppe habe keine Erkenntnisse darüber. Man habe "gar nichts" damit zu tun. Das seien nicht ihre "Methoden", zitiert Reuters den Hamas-Sprecher.

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