Putins Machtspielchen im postsowjetischen Raum
Dutzende Tote, Tausende Festnahmen und Hunderte Verletzte. So lautet die bisherige Bilanz der blutigen Unruhen in der Ex-Sowjetrepublik Kasachstan. Präsident Kassym-Schomart Tokajew hat am Freitag die Niederschlagung der Proteste verkündet und einen Schießbefehl auf alle Demonstranten erteilt.
Wie die Behörden am Samstagvormittag (Ortszeit) mitteilten wurde Ex-Premier Karim Massimow wegen des Verdachts des Hochverrats festgenommen.
Auf Videos, die über Twitter verbreitet wurden, sieht man Feuergefechte in den Straßen der Wirtschaftsmetropole Almaty. Aber aus dem neuntgrößten Land der Erde dringt im Moment noch weniger als sonst nach außen. Nachrichtendienste sind blockiert, ausländische Journalisten werden nicht ins Land gelassen.
Die "Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung", wie Tokajew es in seiner Fernsehansprache nannte, hat der Präsident dem raschen Einschreiten der von russischen Truppen angeführten Verteidigungsallianz OVKS zu verdanken (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, Anm.).
Im zwanzigsten Jahr ihres Bestehens kam die Organisation damit erstmals ihrer militärischen Beistandsverpflichtung nach. Bis dato wurde sie bei Kritikern als Papiertiger verspottet und schien keine praktische Funktion zu haben.
Bedeutet das eine Machtverschiebung im postsowjetischen Raum, ein Erstarken postsowjetischer Strukturen?
Überraschender Einsatz
Eine Machtdemonstration Russlands sei das Intervenieren jedenfalls gewesen, sagt der Politologe und Russland-Experte Gerhard Mangott: "Das Bündnis gewinnt an Gewicht – und das ist vor allem Russland sehr wichtig."
Der OVKS lag die Idee eines Gegengewichts zur NATO zugrunde, sogar ihre Strukturen sind teilweise dem westlichen Bündnis nachempfunden. An den Stellenwert der NATO kam das Bündnis aber nie heran. Zudem gehören ihm auch nur sechs der 15 Nachfolgestaaten der Sowjetunion der OVKS an.
Dennoch kann der Einsatz als eine Machtdemonstration Putins gewertet werden. Dabei muss auch der Kreml von der Intensität der Unruhen überrascht gewesen sein, meint Mangott: "Kasachstan gilt als relativ stabiler ehemaliger Sowjetstaat – im Gegensatz zu Turkmenistan, Usbekistan oder Tadschikistan."
Geopolitisches Tauziehen
Kasachstan ist einer der loyalsten Verbündeten Russlands. Seit der Unabhängigkeit 1991 bis 2019 regierte der russlandfreundliche Nursultan Nasarbajew. Seinen Nachfolger Tokajew wählte er selber aus. Gleichzeitig ist das Land vor allem wirtschaftlich auf Eigenständigkeit und Distanz bedacht – und liebäugelt sowohl nach Ost als nach West: Die US-Energiekonzerne Exxon Mobil und ChevronTexaco sind im erdöl- und gasreichen Land ebenso vertreten wie China. 38 Milliarden US-Dollar soll das Reich der Mitte in Kasachstan investiert haben. Zudem ist Kasachstan ein wichtiger Nachbar für die ökonomische Expansion – Stichwort Seidenstraße. Auch die EU ist ein Handelspartner. Kasachstan ist Österreichs größter Erdöllieferant, noch vor dem Irak und Russland.
22 Prozent der kasachischen Bevölkerung sind ethnische Russen. Sie leben vor allem entlang der Nordgrenze zu Russland. Möglich, dass Putin auch deswegen eine schnelle Intervention wichtig war – wenn sie auch zu einem ungünstigen Zeitpunkt kam, analysiert Mangott: "Russland ist derzeit mit der Zukunft der Ukraine und ihrer Hinwendung zum Westen beschäftigt. Die Proteste in Kasachstan binden nun militärische Kräfte und die Aufmerksamkeit des Kremls."
Erst am Freitag berieten die NATO-Staaten über die russischen Forderungen, unter anderem eine verbindliche Absage an eine Aufnahme der Ukraine in die NATO. Das Tauziehen um den postsowjetischen Raum geht munter weiter.
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