Fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine ist vieles anders – und eines gleich: Wladimir Putins Geschichtsklitterung, seine Schuldvorwürfe an den Westen und seine distanzierte, öffentliche Inszenierung – isoliert und weit entfernt auf großen Bühnen stehend oder an endlos langen Tischen sitzend.
All diese bekannten Muster waren auch in seiner Rede an die Nation am Dienstag vertreten: Der Kremlchef erklärte ausführlich, der Westen habe den Krieg angefangen – Russland habe lediglich seine „Kraft genutzt, um den Krieg zu stoppen“.
Putin betonte, Russland führe keinen Krieg gegen das ukrainische Volk. Der Westen habe das Land besetzt, das „Neonazi“-Regime in Kiew dort installiert, das die Menschen in der Ukraine unterdrücke, und wolle die „historischen Gebiete, die man heute Ukraine nennt, von uns wegnehmen“. Russland, so Putin weiter, habe alles getan, um den Konflikt friedlich zu lösen – der Westen sei daran nicht interessiert gewesen, sagte Putin. Gleichzeitig formulierte Putin das Ziel, die russische Armee weiter aufzurüsten – auch nuklear.
Auch die wirtschaftliche Lage wurde thematisiert. Über die westlichen Sanktionen sagte Putin, diese träfen Russland nicht so stark (siehe unten). Im Gegenteil: Vielen Unternehmen in Russland gehe es gut, im dritten und vierten Quartal habe Russland einen Aufschwung erlebt. Auf Russlands Arbeitsmarkt gebe es einen Rückgang der Arbeitslosigkeit, erklärte Putin weiter. Man besetze Nischen neu, die nach dem Abzug westlicher Firmen frei geworden seien, und wolle seinen Handel in Richtung Ostasien ausweiten.
Rückzug aus Atomvertrag
Fast beiläufig kündigte Putin die Aussetzung des letzten großen atomaren Abrüstungsvertrages mit den USA an: Der Abrüstungsvertrag „New Start“ ist das einzige noch verbliebene große Abkommen zur Rüstungskontrolle zwischen den Ländern, begrenzt die Atomwaffenarsenale auf je 800 Trägersysteme und je 1.550 einsatzbereite Sprengköpfe.
Doch sowohl Frankreich als auch Großbritannien würden ihre Atomwaffenarsenale weiter entwickelten und ihre Nuklearpotenziale gegen Russland ausrichteten, begründete Putin seine Entscheidung.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg appellierte an Putin, „seine Entscheidung zu überdenken und geltende Verträge zu achten“. Russland-Experte Gerhard Mangott reagierte alarmierter: Er nannte die Rede in einem Tweet „die direkteste nukleare Drohung Putins“, und bezog sich auf die Formulierung, „es geht nun um die staatliche Existenz Russlands“: „Genau diese Formulierung steht in der Nukleardoktrin und wird als Bedingung genannt, dass Russland Nuklearwaffen in einem konventionellen Krieg einsetzt“, so Mangott.
Eine erste Reaktion aus der Ukraine kam von Präsidentenberater Mychajlo Podolyak: Putins Äußerungen hätten gezeigt, dass der russische Präsident den Bezug zur Realität verloren habe.
Einen verbalen Gegenschlag auf Putins Rede lieferte US-Präsident Joe Biden, der bei seinem Besuch in Warschau die Stärke der NATO betonte. „Die Ukraine wird niemals ein Sieg für Russland sein“, betonte er. Die Unterstützung für Kiew werde nicht versiegen. Moskau warnte der US-Präsident vor einem Angriff auf einen NATO-Mitgliedsstaat und drohte mit einer mächtigen militärischen Antwort. Biden pries nach seinem Besuch in der Ukraine die Stärke des Landes. „Vor einem Jahr bereitete sich die Welt auf den Fall von Kiew vor“, sagte er.
Xi plant Besuch im Kreml
Als wären zwei Großmächte im Kampfring nicht genug, mischte sich am Dienstagabend noch eine dritte hinzu: Chinas Präsident Xi Jinping kündigte an, in den kommenden Monaten zu einem Gipfeltreffen mit Putin nach Moskau reisen zu wollen, berichtet das Wall Street Journal unter Berufung auf unterrichtete Kreise. Das Treffen solle Teil vom „multilateralen Friedensgesprächen“ werden und es China ermöglichen, „seinen Aufruf zum Verzicht auf den Einsatz von Atomwaffen zu bekräftigen“, so das Blatt.
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