Scholz und ein Jahr "Zeitenwende": Wo steht Deutschland heute?
"Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor."
Diese Worte des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) machten seine Bundestagsrede am 27. Februar 2022 zu seiner bekanntesten bisher; seine "Zeitenwende" wurde sogar zum Wort des Jahres gekürt.
Ein Jahr später versuchen die Welt und Deutschland nach wie vor, sich in dieser neuen Zeit zurechtzufinden. Am Donnerstag zog Scholz im Bundestag in einer 25-minütigen Rede Bilanz: Der Kanzler betonte die unbeugsame Solidarität mit der Ukraine, den gestärkten Zusammenhalt des Westens und die geschafften Wenden Deutschlands.
Doch nicht alles, was Scholz vor einem Jahr versprochen hat, ist auch geglückt.
Wut-Winter abgewendet
Besser als gedacht hat der Ausstieg aus der Energieabhängigkeit von Russland funktioniert: Zum Zeitpunkt der "Zeitenwende" bezog Deutschland die Hälfte seines Gases aus Russland. Die Angst vor Gasrationierungen, kalten Wohnungen, einem Wut-Winter und der Deindustrialisierung der Industrienation ging um.
Nichts davon trat ein: Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck sicherte Deutschland Erdgaslieferungen aus Norwegen, Belgien und den Niederlanden und setzte auf Kohle und Flüssigerdgas (LNG) – zumindest kurzfristig, wie mit Blick auf die angepeilte Klima-Neutralität 2050 immer wieder betont wird. Letzteres gelangte über die Häfen in Belgien und den Niederlanden in die Bundesrepublik. Zudem hat Deutschland im Vorjahr drei eigene LNG-Terminals gebaut und in Betrieb genommen – mehr als Scholz am Tag der "Zeitenwende" wohl zu hoffen gewagt hatte.
Gleichzeitig beschleunigte man den geplanten Ausbau erneuerbarer Energien, 2022 lieferten sie bereits die Hälfte des Stroms im Land. Diese neue "Deutschland-Geschwindigkeit", so Scholz, wolle man beibehalten, bis 2030 den Anteil auf 80 Prozent erhöhen.
Auch in der Haushaltspolitik räumte man mit alten Positionen auf. Die Ampel verabschiedete ein Entlastungspaket nach dem anderen, bis hin zum 200 Milliarden schweren "Doppelwumms". Vor allem Finanzminister Christian Lindner (FDP), der eine harte Schuldenbremse angekündigt hatte, musste schlucken.
Zögerlich bei Waffenlieferung
Weniger erfolgreich verlief hingegen Deutschlands angekündigter Richtungswechsel bei Waffenlieferungen: Zwar wurden im vergangenen Jahr erstmals deutsche Waffen für den Abwehrkampf gegen eine Atommacht in ein Kriegsgebiet geschickt; insgesamt lieferte die Ampel-Regierung Waffen und Ausrüstung im Wert von 2,6 Milliarden Euro an die Ukraine und bildete 3.000 ukrainische Soldaten aus. Doch in Relation zum Bruttoinlandsprodukt sind das nur knapp 0,06 Prozent, die die Bundesrepublik für militärische Hilfe an die Ukraine ausgegeben hat.
Im Vergleich zu den NATO-Bündnispartnern liegt Deutschland damit auf Platz 18 von 30, und bekommt deswegen nicht selten Kritik zu hören.
Dazu kommt, dass die Lieferungen dauern. Die Diskussion über die Lieferung von Kampfpanzern westlicher Bauart begann im Frühjahr 2022, die ersten Leopard 2 werden die Ukraine frühestens Ende März erreichen.
Ob man sein Verhalten als zögerlich, zaudernd oder wohlüberlegt bezeichnet: Scholz lässt sich mit seinen Entscheidungen Zeit, stimmt sich ab mit den Bündnispartnern, vor allem den USA – am Donnerstag reiste er zum zweiten Mal nach Washington zu Joe Biden –, sorgte damit aber für Zerwürfnisse in der Koalition, vor allem mit der auf Waffen drängenden grünen Außenministerin Annalena Baerbock.
Marode Bundeswehr
Am wenigsten geglückt ist die groß angekündigte neue Bedeutung der Bundeswehr. "Auch Deutschland ist widerstandsfähiger geworden. Am deutlichsten wird das, wenn man auf die Bundeswehr blickt" – für diese Aussage erntete Scholz am Donnerstag im Bundestag Gelächter und Pfiffe aus dem Publikum.
"Die Bundeswehr", hieß es von Generalleutnant Alfons Mais am Morgen des russischen Angriffs, "steht mehr oder weniger blank da."
Ein Jahr später schaut es nicht besser aus: Selbst Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) bezeichnete die Bundeswehr als "nicht verteidigungsfähig". Von den 100 Milliarden Euro Sondervermögen zur Modernisierung, die Scholz angekündigt hat, kam im Vorjahr kein einziger Euro in den Kasernen an. 30 Milliarden Euro seien zwar verplant, doch Opposition und Rüstungsindustrie beklagen die schleppende Auftragsvergabe. Auch die versprochene Investition von zwei Prozent des BIP in die deutsche Verteidigung wurde verfehlt.
Geschafft ist die "Zeitenwende" demnach noch lange nicht – auch weil laut Scholz Russlands Präsident Wladimir Putin an einem gerechten Frieden nicht interessiert sei: "Mit der Waffe an der Schläfe lässt sich nicht verhandeln – außer über die eigene Unterwerfung." Und die kommt weder für die Ukraine noch den Westen infrage.
Über eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine hat Deutschland aufgenommen, Waffen im Wert von 2,6 Milliarden Euro geliefert und mehrere Hunderte Milliarden Euro für Entlastungspakete an Schulden aufgenommen, um die Energiepreise und die Inflation (2022: 7,9 Prozent) abzufedern.
In den Umfragen haben SPD und vor allem FDP an Zustimmung eingebüßt, Grüne und CDU dazu gewonnen. Befragt man die Deutschen zu den Sanktionen gegen Russland, Waffenlieferungen an die Ukraine und einer EU-Mitgliedschaft für die Ukraine, gibt es eine klare und stabile Mehrheit für eine aktive Unterstützung.
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