Reportage aus Kiew: "Mein Vater in Moskau glaubt mir nicht, dass hier Krieg ist"
Der Fliegeralarm schrillt, minutenlang. „150 Hrywnja bitte“, sagt der Kassierer ungerührt. Alle kaufen weiter ein, manche schauen kurz aufs Handy. In die Luftschutzkeller geht kaum einer.
Vor genau einem Jahr, in der Nacht auf den 24. Februar, da waren die Straßen hier leer. Bomben, Schüsse, Panik, alle wollten raus aus Kiew. Jeder weiß, was er damals gemacht hat: Julia saß starr am Fenster, sah Hunderte Panzer vorbeirollen. Mykola versteckte sich im Keller, hielt seinen kleinen Sohn fest. Und Vasyl rannte, damit sie ihn nicht sehen.
Heute rennt hier keiner mehr. Die Mehrheit der Kiewer ist wieder zurückgekommen, sie arbeiten, sie bauen, die U-Bahn fährt, und selbst in den Theatern wird wieder gespielt.
Nur: Normal ist hier darum noch lange nichts.
Die Abnormalität
„Manchmal reichen schon Gerüche, um mich zum Weinen zu bringen.“ Julia, 44, rotes Haar, nippt am Kaffee. Zwei Monate war sie im Frühling in Wien; sie wollte in die „Normalität“, endlich wieder einen Alltag haben. Mit ihrem zehnjährigen Sohn Oles dem entfliehen, was sie zu Hause erlebt hatten.
Geschafft haben sie das nicht, sagt sie heute. „Das Herz bleibt immer in der Heimat, auch wenn man nicht dort ist“. Ihre Stimme zittert, wenn sie erzählt, wie sie in Dymer, einem besetzten Kiewer Vorort, mit Mann und Kindern festsaß, russische Panzer und Soldaten vor der Haustür, zu Hause kein Strom, kein Wasser. „Vielleicht“, sagt sie nach einigem Nachdenken, „ist es damals sogar leichter gewesen als jetzt. Da mussten wir über nichts nachdenken. Nur überleben.“
In ganz Kiew erzählen sie einander ihre Geschichten, sie brauchen sie zum Überleben, genauso wie ihre Arbeit. In Butscha, in Borodjanka, überall werden die Einschusslöcher beseitigt, die zerschossenen Häuser renoviert.
Nur nachts, wenn die Ausgangssperre gilt, wenn die Lichter auf den Straßen fast ganz ausgehen, um den Russen keine Angriffsziele zu bieten, dann kommt die Angst. Ruhig ist die Stadt nur an der Oberfläche.
Strohhalme
Wie hält man es aus, wenn die Spuren des Krieges zwar beseitigt sind, aber der Krieg nicht aus dem Kopf weicht? Wenn jeden Tag der Fliegeralarm schrillt, die Kinder nicht zur Schule können? Und die Menschen sterben, sterben, sterben?
„Wir klammern uns alle an Strohhalme“, sagt Julia. Bei ihr ist es die Arbeit im Kunstmuseum, dass sie ihren Oles jeden Tag zur Schule bringt, dass es ihm einigermaßen gut geht. Nicht untätig bleiben, etwas schaffen, sonst wird es schnell dunkel im Kopf. „Jeder hier hat einen Toten“, sagt sie wie zur Erklärung.
Bei ihr sind es der Stiefvater, der am Tag der Invasion operiert hätte werden sollen, für den die Hilfe zu spät kam; die Freundin, die floh und keine Medikamente bekam; der Cousin, der an der Front verschollen ist.
Bei Mykola, 37, Brille, blondes Haar, ist es die eigene Mutter. Sie bekam auf der Krim keine Krebsbehandlung, „die Spitäler sind mit russischen Soldaten überfüllt“, sagt er leise. Als sie nach Moskau hätte fahren können, für die lebensrettende OP, da haben die Ukrainer die Krimbrücke zerbombt. „Eigentlich hätte ich mich freuen sollen“, sagt er. Er schüttelt den Kopf: „Nur konnte ich es nicht.“ Seine Mutter starb. Am 24. Dezember, ohne Arzt, und auch ohne ihren Sohn.
„Er versteht mich nicht“
Für Julia ist ihr Vater auch nicht mehr greifbar, selbst wenn er noch lebt. „Er ist in Moskau, seit 30 Jahren“, sagt sie. „Und er sagt, Russland kämpfe nicht gegen die Ukraine, sondern gegen die NATO. Er glaubt mir einfach nicht.“
Damit ist sie nicht allein. Viele Ukrainer haben Verwandte in Russland, und viele erzählen Geschichten wie diese. Wie das sein kann, bei der eigenen Familie? „Die Russen hätten ja andere Informationen. Aber sie wollen das glauben. Anders kann ich mir das nicht erklären, auch nicht bei meinem Vater“, sagt sie.
Auch Vasyls Familie ist weit weg, wenn auch nur physisch. „Sie sind noch immer im Süden, in der Nähe von Bachmut“, sagt er – dort, wo sich Russen und Ukrainer Schlachten liefern, die wie aus dem Ersten Weltkrieg wirken. Dutzende, vielleicht mehr, sterben täglich, und zwar auf beiden Seiten. „Weg will meine Familie trotzdem nicht.“
Das Geld, das er am Maidan, dem Platz der Revolution, mit seinen zwei weißen Tauben den Passanten abknöpft – 400 Hrywnja, 10 Euro das Foto –, schickt er nach Hause. Er selbst ist zu Kriegsbeginn geflohen, weggerannt; hofft, dass er nicht zurück muss. „Bisher bin ich nicht eingezogen worden. Ich hoffe, das bleibt auch so.“
"Ständig Angst haben bringt einen auch um"
Mykola würde gehen, er hat sich zu Kriegsbeginn freiwillig gemeldet, sagt er. „Aber sie haben mich nicht genommen, wegen meiner Brille“, sagt er. Das kann sich freilich ändern, die Zahl der Rekrutierten in der Ukraine steigt parallel mit jener der Opfer. Auch Julias Mann, sagt sie, sei noch zu Hause. „Er hat eine Verletzung am Bein, darum haben sie ihn nicht eingezogen.“ Wenn er geschickt werde, dann würde er gehen, sagt sie mit fester Stimme. „Das haben wir so vereinbart.“
Ob sie nicht Angst habe, um ihren Mann, um sich, um ihren Sohn?
„Es gibt hier zwei Arten von Menschen. Die, die Angst haben und sich fragen, was aus ihnen wird. Und die, die auch nicht wissen, was passiert, aber ihr Leben leben“, sagt Julia. „Man kann nicht ständig Angst haben. Das bringt einen auch um.“
Sie selbst, das ist klar, gehört zur zweiten Gruppe. Vier Mal, erzählt sie stolz, war sie im letzten Monat im Theater und im Kino, und die Schule ihres Sohnes habe wieder mit dem Schwimmunterricht begonnen, Stromausfälle hin oder her. „Im Sommer planen wir mit meinem Museum eine Buchmesse. Die Leute brauchen das, um normal zu bleiben“, sagt sie. „Unser Leben war immer an große Ereignisse geknüpft. An das Schulende, die Uni, die Hochzeit. Jetzt gibt es nichts Vorhersagbares mehr. Darum müssen wir selbst etwas schaffen.“
Als Julia von Wien nach Hause zurückkam, war ihr Haus zerschossen, die Fenster eingeschlagen. „Im Garten lag eine Granate“, sagt sie. Sie hat sie behalten. Rundherum hat sie Blumen gepflanzt.
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